Walt Whitman (1819-1892)
Er war einer der bedeutendsten amerikanischen Dichter, wenn nicht: der Bedeutendste – zumindest in den Augen seiner Fans. Sein Gedichtband „Leaves of Grass“ (1855) begründet seinen Ruhm; er wurde von ihm immer wieder verändert. Er war Drucker, Lehrer, gab Zeitungen heraus. Im Bürgerkrieg wirkte er in Lazaretten und verarbeitete die Erfahrungen ebenfalls in Gedichten. Schrieb Essays und andere Texte. Er arbeitete nur kurz im Innenministerium und wurde dann wegen unsittlicher Texte entlassen.
Er singt sich Hymnen, der Schönheit des menschlichen Körpers, der Natur. Er ist in seiner Art selbstbewusster Naturmensch, der Städte mit ihrem Durcheinander liebt. Er ist Amerikaner, der seine Zeit in ihren verschiedensten Facetten repräsentiert und ihr Ausdruck gibt. Leben, sterben – alles gehört zusammen. Aber er steht im Mittelpunkt. Er bestattet einen im Krieg gefallenen Kameraden – und denkt an die von ihm erwiderten Küsse. In einem Gedicht sieht er drei Tote liegen. Einer von ihnen: „Ein Antlitz weder Kind noch alt, sehr ruhig, gleichwie aus schönem Elfenbein, gelbweiß; / Jüngling-Mann, ich glaube, ich kenne dich – ich glaube, dies Antlitz ist das Antlitz Christi selbst, / Tot und göttlich, und Bruder Aller, und liegt aufs neue hier.“ Viele Gedichte beschreiben mitfühlend Kranke und sterbende Soldaten, sind ein Hymnus an den Tod. In „Ich sitze und schaue auf alle Plagen der Welt“ endet er mit: „Auf all diese – alle Gemeinheit und Qual ohne Ende, schaue ich sitzend hin, / Sehe, höre und schweige.“ (120) Und manche beschreiben grausame Szenen, die die Grausamkeit verniedlichen, so wenn er einen Sklaven im Wasser ertrinken sieht – ein schöner Körper. Aber nicht immer ist der Tod einfach so als Atomisierung des Menschen gedacht: „Nacht in der Prärie“ endet: „O, ich sehe nun, daß das Leben mir nicht alles offenbaren kann, ebenso wie der Tag es nicht kann, / Ich sehe, daß ich warten muß auf das, was der Tod offenbaren wird.“ (122) Spannend ist das Gedicht „Wagst du nun, o Seele, Auszugehen mit mir in das unbekannte Land, / Wo weder Grund für den Fuß ist, noch Pfad zu folgen?“ Von allen Fesseln befreit „Dann stürmen wir vor, dann fluten wir / In Raum und Zeit, o Seele, bereitet für sie, / Ihresgleichen, ausgerüstet endlich, (o Freude! O Frucht alles Seins!), sie zu erfüllen, o Seele.“ (131) (Walt Whitman: Grashalme. Neue Auswahl Deutsch von Hans Reisiger, S. Fischer, Verlag Berlin 1919) Allerdings ist sein Ansatz grundlegend der, den er in Epikur wieder gefunden hat, dass alles Sein mit dem Sterben zu seinem Ursprung zurückgeht, also Atom wird. Alles wird wieder in seine Einzelteile zerlegt, um Neues zu werden. In dem Gedicht „Ausgehend von Paumanok“ wird ganz deutlich, was seine Religion ist: Das, was ich soeben beschrieben habe. Mit dem Namen „Paumanok“ greift er einen indigenen Ortsnamen auf (Long Island).
Whitman ist geprägt vom in seiner Zeit verbreiteten Deismus – allerdings hat ihn auch ein menschenfreundlicher und auf das innere Licht des Menschen konzentrierter Quäker (Hicks: Gott ist in jedem Grashalm) sehr beeinflusst. Solche Menschen wie er haben mit dazu beigetragen, den christlichen Glauben zu entkrampfen, den Menschen und die Schöpfung stärker einzubeziehen. Der christliche Glaube wird aber dadurch entkrampft, dass sich der Mensch selbst in sich verkrampft. Jesus Christus wird in seiner Besonderheit negiert, da ja Whitman selbst das Besondere ist, und somit ist es der Mensch, der an Jesu Stelle tritt. Ebenso mit Blick auf die Bibel: Die Leaves of Grass sind keine amerikanische Bibel, aber sie sollten der Beginn einer solchen werden. Daraus wurde allerdings nichts mehr. Übrigens hatte er eine Kolumne in einer Zeitung, die den Stil von Predigten der Prediger Brooklyns zum Thema hatte.
(Biographische Informationen aus: David S. Reynolds: Walt Whitman´s America. A Cultural Biography, Vintage Books 1995; weitere Aspekte aus: Horace Traubel: With Walt Whitman in Camden. March 1888 to April 1892. All Nine Original Volumes in One, 1906 [dieses Buch gibt zahlreiche Gespräche mit Whitman wieder])