Karl Wolfskehl (1869-1948)
Er war Schriftsteller und Übersetzer und gehörte dem Stefan George-Kreis an und war ein enger Anhänger des „Meisters“. Ab den 30er Jahren beschäftigte er sich als Jude intensiv mit seinem jüdischen Glauben, er suchte Rückhalt in dem Beständigen, im Glauben, wie „Die Stimme spricht“ deutlich werden lässt. Das heißt aber nicht, dass er nicht schon früher seine jüdische Tradition in Gedichten verarbeitet hat, so in „An den alten Wassern“. Zudem war er im Zionismus engagiert. Aber in den späteren Gedichten versuchte er, den jüdischen Glauben stärker als eine eigene bedeutsame Größe hervorzuheben. Was ihm dann auch Kritik von assimilierten Juden einbrachte. Aber in „An den alten Wassern“ klingt schon „Die Stimme spricht“ an. 1933 floh er, nachdem er überall abgewiesen worden war und auch kaum Rückhalt bei Freunden gefunden hatte, in die Schweiz, 1934 nach Italien, 1938 nach Neuseeland.
Leider war mir „INRI oder Die vier Tafeln“ nicht zugänglich. In diesen Texten soll er sein Verhältnis zu dem Juden Jesus von Nazareth dargelegt haben. Diese Texte sind auch erst nach seinem Tod, 1960, erschienen. Ebenso wurde „Hiob oder die vier Spiegel“ nach seinem Tod, 1950, veröffentlicht. Weil er bis in die Nachkriegszeit hinein kaum rezipiert wurde, soll er an dieser Stelle stärker im Fokus stehen. Zitiert werden die Gedichte nach: Friedrich Voit (Hg): Karl Wolfskehl. Späte Dichtungen, Wallstein 2009) Das Nachwort sei sehr empfohlen.)
Viele seiner späten Gedichte in „Die Stimme spricht“ (1934) sind eine Art Dialoggedichte. Das heißt, der Mensch – der Autor als Prophet – spricht und Gott reagiert – wobei nicht immer deutlich wird, wie Wolfskehl in „Deinem Herzen warm und traut“ als Stimme Gottes verdeutlicht: „Hab ich heimlich eingetaut / Dein Mein neu Gedicht.“ Es geht um Gotteswort im Menschen – wie die Propheten sagten: So spricht Gott – damit sprachen nicht sie, sondern Gott durch sie mit den Worten des jeweiligen prophezeienden Individuums. Aber damit der Mensch Prophet werden kann, damit das Volk wieder Gottes Volk werden kann, muss Gott den Menschen und das Volk erst bereiten. Bereiten bedeutet, durch Leiden und Schmerzen läutern: „Aus deiner Seele schäl Ich dich, / Aus taubem Geröll und Moder. / Wider sich selber wähl Ich dich, / Läutre dich im Geloder.“ Gott macht das jedoch erst, nachdem der Beter gebetet hat: „Herr! Ich will zurück zu Deinem Wort.“ Der Autor greift mit seinem eigenen Leiden das Leiden seines Volkes auf und „Die Stimme“ tröstet in: „Herr, lasse mich nicht fallen“: „In Meinem Angesicht. / Du bist, ja, denn Ich Bin! / Du zogst ins Land, / ich zog dich hin, / Ich liess dich nimmer fallen.“ Er ist sich aber unsicher, ob es wirklich Gott ist, der durch ihn spricht und er fragt in „Er wartet“: „Bist du der letzte Ferge, bist / Weltwürger du´s, der arger List / Liegt grinsend im Verstecke?“ Die Antwort der Stimme ist spannend: „Ich bin der Tod drin Leben kreisst, / Der Endiger, der Sich verheisst, / Der Tagstrahl der dich wecke / Und wartet.“
Wunderschön wird dann in „Schechina“ die Anwesenheit Gottes in der Welt besungen und aufgegriffen in „Am Seder zu sagen“ wird die Geschichte des Volkes als Lösung von Gott dargelegt und die Antwort Gottes: „Immer wieder doch, immer wieder / Steigen auf zum Himmel eure Lieder, / Immer wieder such Ich das zerstreute / Israel, nie wird’s der Andern Beute!“
Das Gedicht „Die Wand“ aus der Perspektive nach der Schoah / dem Holocaust zu lesen ist schwer: „Wo ihr nur hindrängt, steht als schwarze Wand / Der Erde Stahlgeweid getürmt zum Himmel, / Blind macht sie jeden Blick, würgt allen Hauch, … Jeder Schritt gebiert dich, jedem Schrei entsteigst du / Kälter immer in Flammen unsres Wehs.“ Früher war alles gut. „… dann brach die Zeit / Auseinander…“ In den folgenden Gedichten – alles schon vor der Schoah geschrieben – begründet die Stimme, warum das Leiden notwendig ist. Wie die alttestamentlichen Propheten warnten erklingt es neu im 20. Jahrhundert. Das Volk soll ganz allein Gott gehören, sich Gott allein zuwenden: „Drum reiss Ich dich von allem los. / Heut stehst du vor Mir öd und bloss. / Heut hab Ich dich allein!“ Es wird die Heilung folgen, die Erneuerung. Aber – und das ist heftiger: „Euch muss Leid sein, eh´r dürft ihr nicht glauben“ („Die Stimme zum Boten“). Gott ist der, der alles in der Hand hat: „Die Rede ist wahr. Denn ICH BIN DER ICH BIN. / Bald verstatt Ich, gewähr Ich Glauben.“ Man muss bereit sein, sich durch Gott von allem lösen zu lassen („Kann ich überwinden?“). Auf diesem schweren Weg heim – auf diesem Auszug, nicht aus Ägypten, sondern allen Zeiten der Verfolgung, denen das jüdische Volk ausgeliefert ist („Ewiger Auszug“) – ist Gott anwesend – und das beschreibt Wolfskehl in vielen weiteren Gedichten (z.B.: „Ich trags mit euch“) – und sie tragen es selbst („Kalon bekawod namir“), gehen unter dem Segen der Alten („Vor Ausfahrt / Die Alten“). Das Gedicht „Traure nicht!“ schließt:
„Er hält dich in den Flammenhänden:
Wies dich entzündet, dich durchbraust!
Leuchtend entsteigst du seinen Bränden,
Schwebst heiligen Sangs ob den Geländen:
Frei bist du Seele, gottbehaust.“
Gottes Wort muss man stehen lassen, auch wenn es einem nicht gefällt („Gottes Wort über alle Ewigkeit“). Das Gedicht „ER ER ER“ hat zwei Einleitungssätze: „ER ist nicht alles, sondern: alles ist nicht ER. Das Absolute ist die vollkommene Exemption.“ Damit kann das Gedicht „Schechina“ nicht mehr im pantheistischen Sinn missverstanden werden.
Laut Michael Landmann (Figuren um Stefan George, Bd. 2, 1988) gehörte „Die Stimme spricht“ zum Reisegepäck der fliehenden Juden. Ob die „Theologie nach Auschwitz“ auch Wolfskehl berücksichtigt hat? Das zu untersuchen wäre spannend. Ich vermute eher nicht, weil man dann doch zu sehr in dem eigenen leichthinnig eingeschränkten Denken kreiste: Einen solchen Gott will ich nicht. Wolfskehl hat versucht, dem Gott, den wir Menschen nicht wollen, der aber biblisch bekannt wird, eine Stimme zu geben.