Maximilian Woloschin (1877/8-1932)

Eine andere Form der Darlegung, ausgehend von dem Gedicht Woloschins:

Aus dem Gedicht habe ich aus Gründen des Copyrights nur wenige Worte stehen gelassen:

Terror
Arbeit bei Nacht

Hastig Urteile
verteilten an Soldaten Wodka.

Riefen Männer und Frauen
Nahmen Kleider ab
Karrten Gefangene weg.
Nachts trieb man sie
Über den Eis-Schlamm
Vor die Stadt
an den Rand der Schlucht,
Erschoss sie

Erstach sie.
Wälzte Lebende in die Grube

Schüttete Erde darauf.
Beim Morgengrauen s
chlichen
Frauen, Mütter, Hunde.
Scharrten die Erde auf, nagten an Knochen,

Küßten das geliebte Fleisch.

Lesen wir als Deutsche das Gedicht, denken wir vermutlich automatisch an die Zeit des Nationalsozialismus, in der Menschen wie hier beschrieben ermordet wurden, wahllos hingerichtet, geordnet, gezielt, in Gruben verscharrt. Aber es handelt sich um ein Gedicht aus dem Jahr 1919. Entnommen aus: Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten. Ausgewählt und eingeleitet von Efim Etkind, Piper Verlag München, 2. Auflage 1987, 356; übersetzt von Rolf-Dietrich Keil.

Der ukrainisch-russische Dichter, Maler, Publizist Woloschin (1877/8-1932) lebte in einer Zeit, in der das Leben in Russland/Sowjetunion äußerst kompliziert war. Vorrevolutionäre Stimmungen, dann 1917 die heftigen folgenreichen revolutionären Auswüchse. Seinen Band „Gedichte über Terror“ brachte er 1923 in Berlin heraus – in der Sowjetunion wurde es verständlicherweise nicht gedruckt. (Bibliographische Angaben s. https://de.wikipedia.org/wiki/Maximilian_Alexandrowitsch_Woloschin )

Er lebte einige Zeit in Westeuropa, erlebte nach Russland zurückgekehrt 1905 den so genannten Petersburger Blutsonntag, als vor dem Zarenpalast mehr als 100/400 friedlich demonstrierende Menschen erschossen wurden. Seitdem gab es in Russland überall Aufstände, Morde. Er war Pazifist und weigerte sich, an Kriegshandlungen teilzunehmen. Während der Revolution versuchte er beide Parteien – die Roten (von Trotzki gegründete Rote Armee – Kommunisten), und die Weißen (Demokraten, Nationalisten, Konservative, nicht extremistische Sozialisten) – zu versöhnen, nahm von beiden Menschen auf, die sich vor der jeweils anderen verbergen wollten. Denn diese Gruppen bekämpften sich mit allen Mitteln – terrorisierten auch die Zivilbevölkerung. Der Bürgerkrieg hat bis zu 10 Millionen Menschen das Leben gekostet. Die Rote Armee besiegte die Weiße Armee in den unterschiedlichen Bereichen Russlands 1920-1922 (Gründung der Sowjetunion). Überwiegend lebte Woloschin an der Südküste der Krim. Dort besiegten die Roten die Weißen 1921.

*

1919 wurde in Russland durch die genannten Armeen herumgemordet – ca. 20 Jahre später durch die nationalsozialistischen Ideologen. Die Kämpfe in China – unter dem stalinistischen Kommunismus auch der Stalin-Fan Mao, der sich dann von der Sowjetunion freikämpfte -und die massiven Bürgerkriegszeiten in China, die Kämpfe, Vernichtungen von Menschen in den 40er bis in die 60er Jahren. Ein ungeheures Blutbad. Raffiniert und hinterlistig durchgeführt zum Teil, von Intellektuellen und Fans in aller Welt goutiert. Schlimme Zeiten – ein wenig aufgearbeitet von einem Überlebenden, Solschenizyn (Sowjetunion). Wie sieht es mit der Aufarbeitung der chinesischen Revolution aus – auch in Europa? Aus Perspektive der Opfer?

Diese im Gedicht geschilderten Hinrichtungen kann ich im Augenblick weltweit nicht sehen, wie noch vor wenigen Jahrzehnten in Bosnien (1995) und in anderer Form in Ruanda (1994). Wie sieht es durch die letzten Jahrzehnte bis heute (2023) in den Lagern aus? Den Lagern Chinas, Nordkoreas? Wie in den vielen Lagern, Gefängnissen der Welt, in denen Gefangene aus politischen, religiösen, ethnischen Gründen inhaftiert sind? Eritrea? Pakistan? Myanmar? Belarus? Vietnam? Laos? Türkei? Iran? Venezuela? Nicaragua? Was geschieht in Äthiopien? Das sind nur die Namen der Länder, die mir spontan eingefallen sind. Wann werden ehrliche Aufarbeitungen dieser brutalen Zeiten – aus der Perspektive der Opfer – möglich sein?

Mitleidlos, gebeugt, nackt, kontrolliert, gefoltert, herumgekarrt, ohne zu wissen, was mit ihnen passiert, in Finsternis herumgeschubst, vorwärts getrieben in den Tod, frierend – so im Gedicht -, aber in manchen Staaten vegetieren sie dahin in überhitzten Containern. In Dunkelheit – in grellem Licht, Tag und Nacht, Zeitlosigkeit bemächtigt sich ihrer. Überfüllte, vor Schmutz starrende Lager, saubere, glänzende Stätte der Vernichtung, Orte des Hungers nach Nahrung und Geborgenheit, Orte des Hasses, der Folter, der emotionslosen Erniedrigungen, der zerstörten Gewissen, der zerbrochenen Seelen, verlorene Achtung vor Gott und Mensch. Orte, wie auch immer, in denen Menschen erzogen, gebrochen, gehirngewaschen werden sollen.

Ja, es gibt Unterschiede. Das Gedicht beschreibt andere Situationen, als wir sie in den genannten Ländern vorfinden. Aber gleich ist die Menschenverachtung, es geht darum, dass Gerechtigkeit und Recht keine Rolle spielen. Menschen werden mit Wodka (so das Gedicht), aber auch mit anderen Drogen, mit Karriere- und Finanz-Versprechungen dazu getrieben, andere zu vernichten. Eigene Ängste, selbst unter die Zertretenen zu geraten, wenn man nicht mitmacht. Menschen, die Lügen glauben, die sich barbarischen Autoritäten unterwerfen, sadistische Machtfülle spielt eine Rolle, unkontrolliert oder gefördert durch den Staat. Ideologien – Drogen, die dazu verführen, Menschen nicht als Menschen zu sehen, sondern als Feinde, als zu vernichtende, lästige Insekten. Wesen, die auf dem Weg in die heile Welt der Ideologie stören. Nicht nur stören, sondern auch für Schlimmes verantwortlich gemacht werden – und darum verachtet, verspottet und vernichtet werden müssen.

Wo werden heute die erniedrigten und vernichteten Menschen entsorgt? Verbrannt, um Spuren zu beseitigen? In Massengräbern? Irgendwo zerstreut in den Wäldern, Meeren, Flüssen, zerrieben unter Steinen? Zerfleddert von Tieren? In Säure? Welche Felder oder Wälder wachsen üppig, weil die Leiber der Opfer sie düngen? Verschollen? Keiner weiß? Namenlos? Oder: Den Angehörigen als Asche übergeben mit der „traurigen“ Mitteilung, dass der Angehörige leider an einer Krankheit, auf der Flucht verstorben ist?

Wo sind all die Opfer begraben? Werden die Friedhöfe in Zukunft zu Orten, an denen man ihrer gedenkt, ihrer gedenken darf, weil endlich die Tyrannen und die tyrannischen Gruppen selbst unter der Erde liegen? Angehörige werden die Opfer suchen, sie nicht finden – finden sie einen Ort der Trauer? Sind sie selbst verrückt geworden, zerbrochen, zermürbt? Opfer, lebende Tote? Warten – hoffen – sehnen? Den Opfern den erniedrigten Namen zurückgeben. Ihn in Ehren halten. Jetzt schon ihre Namen eruieren, unabhängig von ihren politischen, religiösen, ethnischen Hintergründen, damit sie eines Tages als leuchtendes Beispiel für Menschsein gelten. Menschen, die in Freiheit leben dürfen, haben auch Aufgaben, damit die Tyrannen nie und nimmer siegen.

*

  • Es liegt an uns, den Mitmenschen ein Wolf zu werden – oder ein Mensch, der die Hand reicht, stärkt.
  • Es liegt an uns, mit der Menge mitzuheulen, zu grölen, kreuzige ihn! – oder die Stimme in Klugheit dagegen zu erheben, auch wenn sie schwach ist?
  • Es liegt an uns, mitzumachen, andere zu erniedrigen – oder auf Seiten der Erniedrigten zu stehen und sie aufzurichten.
  • Es liegt an uns, andere in die Kategorie Feind einzuordnen und sie zu vernichten suchen – oder als Mensch immer neu versuchen, auf den anderen zuzugehen.
  • Es liegt an uns, gleichgültig zu sein, ob wir Gewalt an anderen ignorieren, sie übersehen – oder ob wir uns für sie einsetzen, auch wenn es für einen selbst gefährlich werden könnte.

*

Woloschin hat einige Texte mit Christus im Zentrum geschrieben – vor und nach seiner Annäherung an die Anthroposophie. 1918 entstand das Gedicht „Das taubstumme Russland“. In diesem zeigt er auf, dass Russland ein von Dämonen besessenes Land ist. Es bleibt den gepeinigten Menschen nur noch, Christus zu bitten, er möge kommen, es bleibt nur noch das Wissen, dass einer – Christus – kommen wird, der dem Satan befiehlt: „Fahre aus!“ – in Anlehnung an Markus 5,8. (Ähnliche Hoffnung auch in dem Gedicht von 1917: „Die taubstummen Dämonen„: Diese gehen über die Erde – bis Christi Antlitz aus den Wolken in die Finsternis leuchtet)(*) Und im gleichen Jahr, in der das oben genannte Gedicht geschrieben wurde, hat er eines geschrieben, das die Welt als Fleisch Satans, der gefallene Engel, bezeichnet. Während Christus den Menschen durch seinen Kreuzestod befreit hat, wartet der Satan noch auf die Befreiung. Der Mensch müsse nun lieben und glauben, damit auch der Satan befreit werde. (Es wird bei Kasack aus dem Kontext nicht ganz klar, ob es sich um das Gedicht „Stigmata“ handelt.) (**) Welche Auswirkungen das hat, wird an dem Gedicht „Kosmos“ deutlich, in dem er ausführlich die Menschheitsgeschichte beschreibt. Es endet: „Es gibt keinen Ausweg aus dem Labyrinth der Erkenntnis, / Und der Mensch wird nie anders werden / Als das, woran er leidenschaftlich glaubt. // Sei also selbst der Schöpfer deines Universums, / Erkenne dich selbst als göttlich und ewig / Und treibe die Welten auf den Seen der Seelen und Glaubensrichtungen. / Sei ein wagemutiger Erbauer der Türme von Babylon / Du, Exorzist von Sphinxen und Chimären.“ Derjenige, der die falsche Ideen austreiben kann, soll babylonische Türme bauen, die von Gott sowieso zerstört werden? Woloschin scheint einen unerschütterlichen Glauben in den Menschen zu haben und das 1923, in einer Zeit, in der die Kommunisten unendliches Elend bewirken – allerdings eben in dem Sinn: Was der Mensch selbstbewusst und leidenschaftlich erbaut, wird zerstört werden. Bunin beschreibt Woloschin, den er in Odessa begegnete, in seinem Revolutionstagebuch äußerst ambivalent – er akzeptiert das Verhalten Woloschins nicht: Gut meinend, leicht auf Aussagen hereinfallend, gegen Übles, aber es akzeptierend. Das könnte sich auch in diesem genannten Gedicht widerspiegeln. Ähnlich im Gedicht „Nordosten“ Gedichte klassischer und zeitgenössischer Autoren – NORTHEAST (stroki.net) Es beginnt damit, dass ein Heiliger den Hunnen Attila mit den Worten begrüßte: „Gepriesen sei dein Kommen, / Geißel des Gottes, dem ich diene, / Es steht mir nicht zu, dich aufzuhalten“. Nach diesen Worten durchstreift Woloschin die Geschichte Russlands – die grausame Geschichte. Es endet damit, dass er vom undurchdringlichen Plan Gottes spricht: „Wir werden alles verstehen, wir werden alles liebevoll ertragen – den verbrennenden Wind der höllischen Gegenwelt – / Gottes Geißel! – Ich grüße dich!“ Leider finde ich zu dem Gedicht keine Jahresangabe – aber es ist in der Zeit der Bolschewiki entstanden, da auch sie erwähnt werden. Es ist der alte Glaube, dass Gott den höllischen Mächten ihren Lauf lässt. Das Ziel, dass damit eine Besserung des Menschen verbunden wird, wird bei Woloschins letzten Versen nicht erkennbar. Er betont: Es ist zu ertragen. Die Worte des von Woloschin genannten Heiligen gehen freilich weiter: Auch wenn er Attila als Geißel Gottes begrüßt, den er nicht aufhalten kann: er dient aber Gott – und eben nicht Attila. Im Gedicht „Die Tapferkeit des Dichters“ sieht er es als Aufgabe des Dichters an, nicht nur einen Teil des geschichtlichen Geschehens zu erfassen, sondern das Ganze. Und dieses Ganze soll der Dichter den Menschen mitteilen, die nur begrenzte Sichtweise haben, weil sie den jeweiligen Teil als Ganzes sehen. Weil der Dichter nicht Partei ist, sondern als Mensch wirkt, wird er immer Ausgestoßener sein. https://stroki.net/content/view/15908/99/ Sonderbar allerdings ist, dass er in dem Gedicht von 1925 davon spricht, dass der Dichter Ausgestoßener unter allen Zaren und Nationen / Staaten sei. Umgeht er damit Stalin? Wohl eher nicht, denn kurz vorher schreibt er: „In den Tagen der Revolution sei ein Mensch, kein Mitläufer / Denke daran, dass Banner, Parteien und Programme / Wie ein Trauerflor für einen Arzt im Irrenhaus ist.“ In der Zeit, in der Gottes Geißeln – also die höllischen Mächte wüten – gilt es, sich als Mensch zu bewähren. Er geht soweit, dass er 1925 im „Dichter“ (6 und 7) sagt: „In den Tagen, in der die Gerechtigkeit, geblendet vom Schwert, ihr Schwert schwingt, / In den Tagen, wo die Spasmen der Liebe die Nationen verwirren, / In den Tagen, wo das Maschinengewehr vom Wesen der Brüderlichkeit spricht, – // Glaube an den Menschen. Habt keinen Respekt vor der Menge, fürchtet euch nicht. / In jedem Räuber ehre Gott, der in den Abgründen gekreuzigt ist.“ https://stroki.net/content/view/15906/99/ Woloschin – ein Echo Tolstois?

(*) Wolfgang Kasack: Das Christusbild in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, 183-196 in: Wolfgang Kasack [Hg]: Tausend Jahre Russische Orthodoxe Kirche, Verlag Otto Sagner, München 1988, 186 [Arbeiten und Texte zur Slavistik 4] https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb00047013/bsb:BV001285053?queries=Woloschin&language=de&c=default)
Und (**) http://Christus in der russischen Literatur. Ein Gang durch die Literaturgeschichte von ihren Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Verlag Otto Sagner, München 1999 file:///D:/Downloads2/1003913.pdf
Die Übersetzungen von den Gedichten aus stroko.net wurden mit Hilfe von DeepL und eigenen Interpretationen hergestellt.

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Menschen auf aller Welt gilt:

Wachet, steht im Glauben, seid mutig und stark.

Ein Satz, den der Apostel Paulus den Gemeindegliedern in Korinth geschrieben hat (1. Kor. 16,13). Jesus Christus war Opfer. Durch die Auferstehung wurde die Angst vieler Menschen überwunden. Er stärkt durch Jahrtausende hindurch Menschen, die erniedrigt werden. Er selbst als Leidender – und der, der den Tod überwunden hat. Durch die Auferweckung durch Gott werden die Opfer wieder gewürdigt, auch wenn Menschen sie vergessen.

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Das Gedicht von 1919 – es ist ein Gedicht, das in vielen Zeiten der Menschheitsgeschichte entstanden sein könnte. Weltweit. Es beschreibt neutral. Wie ein Zeitungsbericht. Wie ein Film abläuft. So war es. Emotionslos. Oder doch nicht? Der Dichter, der Beobachter regt unsere Emotionen mit einzelnen Worten an. Mitleid. Mitleid darf nicht im Mitleid stecken bleiben. Mitleid fordert Tat. Erinnerung an die Opfer der Vergangenheit – Einsatz für die Opfer der Gegenwart.