Siegbert Stehmann (1912-1945)

Siegbert Stehmann (1912-1945)

Aufgrund der neu gefundenen Dissertation von Jung (s.u.) ist die Biographie in Überarbeitung.

Wenn man das Thema Stehmann anspricht, dann gibt es zwei Fraktionen: Die einen ordnen ihn als Mutigen ein, der sich der nationalsozialistischen Ideologie entgegengestellt hat, und andere – oder ein anderer? – sehen ihn als Nazi-Dichter an, also als einen, der sich dazu bekannte, Nationalsozialist gewesen zu sein und gleichzeitig der Bekennenden Kirche angehörte. Es ist gut, wenn es Menschen gibt, die anderen den Heiligenschein herunterreißen, der ihnen nicht passt. Allerdings ist es äußerst schade, wenn das sarkastisch, polemisch geschieht, durch Zusammenstellungen von Zitaten unterschiedlicher Personen, um eine Nähe zu Hitler zu suggerieren – das heißt zudem, es ist ärgerlich, wenn nur die Aspekte benannt werden, die diesen Angriff auf Stehmann zu rechtfertigen scheinen. Nicht akzeptabel ist es, zum Beispiel auch, dass nur von einem Brief ausgegangen wird, dessen Rhetorik nicht untersucht wird, gleichzeitig aber biographische Aufzeichnungen übergangen werden, oder dass ein Zeuge benannt wird, der gestorben ist, ohne dass das, was er sagte, verifiziert werden kann, darüber hinaus noch von einem Fehler begleitet wird. (Dazu s. auch Jung, Angaben s. u.) Wenn man einem den Heiligenschein wegnehmen möchte, sollte es auch sachlich nachvollziehbar sein. (Je mehr ich mich mit Stehmann befasse, desto unangemessener ist diese aggressive Einordnung als Nationalsozialist.)

Was Stehmann betrifft, stößt man auf sich widersprechende Einseitigkeiten. Ich beziehe mich in den biographischen Angaben, diese modifizierend auf: Rudolf Wentorf: Siegbert Stehmann. Ein Dichter in der Bewährung, 1965 – und auf den „Gegenspieler“: Hans Prolingheuer: Der bekennende Nazi, „Dichterpastor“ und Soldat Siegbert Stehmann und die endlose Fälschungsgeschichte vom verfolgten Widerstandskämpfer. (Im Internet einsehbar.) Die Gedichte habe ich aus: Siegbert Stehmann: Brennende Jahre. Gedichte und Tagebücher, mit einem Vorwort von R. A. Schröder, Eckart-Verlag Witten und Berlin 1964 (2. gekürzte Auflage). Nachträglich wurde ich auf die sachliche Dissertation von Wolfgang Jung: „Erzählung als Verkündigung“. Der Auftrag der geistlichen Dichtung in „dürftiger Zeit“; dargestellt an Leben und Werk Siegbert Stehmanns 2016 (https://d-nb.info/1151446653/34), aufmerksam. Im Anhang werden zahlreiche weitere Gedichte zitiert, die ein umfassenderes Bild von Stehmann ermöglichen.

Stehmann wuchs in einem Haus auf, in dem er Bildung genoss. Wenn ich das richtig wahrnehme, war er eher Einzelgänger, der schon früh auch Spott wegen seines Glaubens ertragen musste. Er studierte Theologie, war wohl recht furchtlos in der Bekennenden Kirche aktiv (dazu s. Jung 42ff.), wurde eingezogen, kämpfte in Skandinavien und an der Ostfront. 1940 heiratete er. Als er an der Front war, erfuhr er, dass sein Kind gestorben war – was er als Gleichnis für die Zeit des Todes, in der sie alle leben müssen, angesehen hat. Ein weiterer Sohn wurde geboren. Vermutlich wird Stehmann nach einer Denunziation an die vorderste Front geschickt und starb am 18.1.1945, mit 32 Jahren.

Stehmann sah sich in einem Brief an einen von Nationalsozialisten geförderten Gegner als 23 jähriger selbst als alten Kämpfer an, mit SA Uniform (er war als Student beim Stahlhelm, der nicht nationalsozialistisch aber national orientiert war; der Stahlhelm wurde der SA dann zugeordnet) (seine Stellung zum Nationalsozialismus in jungen Jahren ist nicht mehr erkennbar, dürfte aber – ausgehend von seinem Engagement später eher ablehnend gewesen sein; dazu s. Jung 33ff.). Als solcher bekämpft er diejenigen, die den christlichen Glauben aus dem Nationalsozialismus hinausdrängen wollen – in Verkennung der wahren Absichten Hitlers. Hitler hat die nichtchristlichen Religiösen (Deutsche Glaubensbewegung) unterstützt, um den Kirchen zu schaden, hat diese allerdings fallen gelassen, als sie sich zerstritten. Wie er auch die Deutschen Christen unterstützt hatte (Reichsbischof Müller) dann aber, als diese seine Sicht nicht durchsetzen konnten, ebenso fallen gelassen hat. Schon 1935 bemerkt Stehmann, dass Hunderte von Pfarrern wegen ihres Glaubens in Gefängnissen sitzen und zum Teil in KZ. Er selbst wurde 1935 – als (siehe oben) SA-Mann – während einer antichristlichen Veranstaltung so massiv von einem SS-Mann verprügelt, dass er Angst hatte, ein Auge zu verlieren und stand ab da unter der Beobachtung der Gestapo. 1937 wurde er selbst verhaftet und war kurze Zeit inhaftiert. Als Mitglied der Bekennenden Kirche weiß er 1939 um Verhaftungen leitender Männer der Bekennenden Kirche, er weiß davon, dass Pfarrhäuser in Brand gesteckt werden. Und natürlich: Dass die Kirche sich von Christus entfernt. Ebenso war er mit zahlreichen Menschen befreundet, die dem Nationalsozialismus entgegenstanden, so mit Klepper, Schröder, Schneider, aber auch mit Friedrich Alfred Schmid-Noerr und vielen anderen. Die Probleme Kleppers angesichts des Antisemitismus dürften ihm kaum entgangen sein. Man beachte in diesem Zusammenhang den Tagebucheintrag vom 9.8.1939.

Das Spannende ist nun: In seinen Gedichten begegnet der Nationalsozialismus nur indirekt und am Rand. In den Gedichten bekommt die Ideologie – aber auch der Kampf gegen die Ideologie keinen weiten Raum. Es sind im Grunde zwei Welten:

Die Welt der Schönheit in Verbindung mit Gottes Botschaft der Gnade, der Nähe Gottes in den Gedichten und der Kampf um die Botschaft Gottes in der Welt des Bösen, der Gewissenlosigkeit und Lüge im Alltag. Er selbst sieht, dass man diese Welten zusammenführen muss – aber in dem Sinn, dass die Welt Gottes dominiert. Menschen seiner Zeit, so Stehmann, sehen nicht das Einfache, nehmen die Nähe Gottes nicht wahr, weil sie Gleichnisse und Wunder (s. u. die Gedichtsammlung „Das Gleichnis“) nicht mehr verstehen, wie er in einem Beitrag zu einem „Werkbuch für die Dichtung“ erkennen lässt.

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Gedichte wirken noch, auch wenn man sie von der Biographie des Autors löst – wenn sie gut sind. Und das haben wir in vielen Darlegungen hier schon wahrgenommen. Stehmann verknüpft sein Erleben ganz eng mit der dichterischen Umsetzung, vermag es jedoch so zu verallgemeinern, dass die Gedichte auch ohne die Biographie verständlich sind.

1939 wurden die Gedichtsammlungen „Das Gleichnis. Ein kleines Evangelium in Gedichten“ und „Die sieben Sendschreiben“ veröffentlicht. Diese seien hier zuerst angesprochen, später die Gedichte aus den sechs Jahren danach bis zu seinem Sterben. Zuletzt sei noch ein Blick auf die Gedichte geworfen, die Jung im Anhang seiner Dissertation nennt.

In „Das Gleichnis“ spricht er biblische Themen an und bezieht sie auf die Gegenwart. Es geht um Sünde und Vergebung/Kreuz („Der Baum“), um Gottesbotschaft und Gericht („Der Bote“), um Abendmahl („Das Brot“), um den Heiligen Geist („Das Feuer“), um Nächstenliebe – Aufnahme von Menschen ohne Heimat („Das Gastmahl“). Kurz: Gott selbst verwendet Gleichnisse: Baum/Kreuz, Brot/ Vergebung, Feuer/ Geist Gottes, Hütte/ Ewiges Leben. Ebenso wird der Hirte Gleichnis für Christus – und immer geht es darum, dass die Nähe Gottes dem Menschen angesagt wird. Um nur diese Beispiele zu nennen.

Glaubt nicht der Dunkelheit! / Ihr habt das Licht empfangen. / Durch eure arme Zeit / Ist Gott hindurchgegangen. / Ihr habt das Licht empfangen, / Auf daß ihr´s selber seid! // Doch hütet euch dabei. / Der Böse kann sich stellen, / Als ob er mächtig sei, / Die Herzen zu erhellen. / Und kann er sich verstellen, / Glaubt ihr, ihr wäret frei?“ („Das Licht“) Nimmt Stehmann an dieser Stelle Bezug auf die politische Situation seiner Zeit? Vermutlich – aber eben so, dass das im Grunde für alle Zeiten gilt. Oder: „Unsre Zeit ist späte Zeit. / Menschen wurden Toren, / Haben Gottes Herrlichkeit / Und sein Wort verloren, / Tauschen Liebe mit dem Haß, / Dienen eignem Ruhme, / Aber alle Zeit ist Gras / Und wie Grases Blume!“. Seine Gedichte können seine Zeit ansprechen – sind aber eben zeitlos. Entsprechend beugen wir uns heute wie sich die Hirten der Weihnachtsgeschichte wie auch die Weisen, die Jesus verehren, verehrend gebeugt haben („Die Nacht“). Alles ist Gottes Zeit. An dieser Stelle kommt dann die Philosophie Kierkegaards ins Spiel, in der er alte christliche Erfahrungen durchdenkt: die Gleichzeitigkeit. Das, was vor 2000 Jahren geschah – gilt jetzt, die Heilszeit Jesu ist präsent. Jesus ist nicht Vergangenheit, er ist in Christus Gegenwart. Wie Gott mit Abraham, Mose, den Propheten war, so ist er auch jetzt mit uns. Das Verständnis von Geschichte wird gesprengt. Sie ist offen, sie ist Gottes. Jesus hat den Sturm gestillt – so stillt er jetzt den Sturm des Lebens. (In diesem Sinne auch spätere Gedichte, z.B. „Der Weihnachtsgruß“, „Feldweihnacht“.) Aus dieser Perspektive ist jede Zeit – auch die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus – eine, die vorübergeht, eine, in der Gott den Notleidenden beisteht. Diese Sicht entspricht innerstem christlichem Glauben. Es besteht allerdings die Gefahr, dass man dann Geschichte in ihrer Gefährlichkeit und Unmenschlichkeit nicht so wahrzunehmen vermag, wie sie wahrgenommen werden muss. Vielleicht nimmt man auch die Verstrickung des Individuums in der strukturellen Schuld nicht angemessen wahr (wie im genannten Zitat des Gedichtes „Das Licht“ gesehen) und die Möglichkeit, gegen politische Übel anzugehen. Aber das kann man von Stehmann nicht sagen, weil er außerhalb des Dichtens politisch aktiv war.

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Kommen wir nun zu „Die sieben Sendschreiben“ – Stehmann nimmt hier die Apokalypse des Johannes und andere neutestamentliche Texte auf. Viele dieser Texte sind gefüllt mit politischen Anspielungen. Schon das erste Sendschreiben ist voller Anspielungen: Du „Erkennst der falschen Boten Schuld“, kennst die Wahrheit, wirst von Menschen verflucht, den Knechten unterworfen. Das zweite Sendschreiben sagt: „Von Spöttern wird dein Geist gehetzt, / Du ißt vom Schmerz und trinkst von Schanden“, „Du bist gebunden“ usw. Im dritten Sendschreiben: „Du beugst dem Satan nicht das Knie“, „Du leidest große Not“, „Die Treue wird dir schlecht gelohnt“ und ganz massiv das vierte Sendschreiben: „Der Feind steht dir an Tisch und Bett. / Erkenne ihn, den du geladen! / Du hörst ihn gern. Er redet gut, / Doch deine Seele nimmt den Schaden.“ Usw. Und immer wieder wird dazu aufgefordert, in all diesem Leiden Stand zu halten, wachsam zu bleiben, und es wird gelobt, wenn die Gemeinden standhalten. Es sind Trostgedichte, Gedichte, die aufrufen, stark zu sein, auf Gott zu schauen angesichts all der Schwierigkeiten. In der Apokalypse des Johannes geht es gerade auch darum: es geht darum, die Gemeinde trotz aller Anfechtungen zu ermutigen. Das Problem, das wir als Nachgeborene nachträglich mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus sehen: Die Bekennende Kirche kümmert sich im Wesentlichen um Christen – für die Verfolgten, die nicht Christen sind, die nicht als dem deutschen Volk zugehörig betrachtet wurden, die nicht mit der christlichen Moral übereinstimmten, machte man kaum den Mund auf, regte man kaum die Hände. Gleichzeitig erkennt Stehmann ganz deutlich, wie gelähmt alle sind, dass sie das Kreuz, also das Leiden fürchten, selbst Bruderliebe (also die Liebe der Menschen der Gemeinde untereinander) vergessen, dass sie alles, was um sie herum geschieht, nicht einordnen können (Tagebuch 2.2. und 4.2. 1939; bes. auch 25.5.). Dieses vergessen Nachgeborene sehr leicht. Für sie ist alles eindeutig, klar. Wenn Menschen jedoch in einer geschichtlichen Situation stecken, dann ist vieles nicht so klar wie hinterher. Und weil vieles nicht so klar ist, stockt auch das Handeln. Aber nicht erst hinterher war es für Stehmann erkennbar, worauf alles hinausläuft. Er selbst sieht – aber seine Zeitgenossen sehen nicht. Sie interpretieren den Schrei als Jubellieder, „Ergreift den Stein, als wär es Brot, / Gebt Lügengeistern / In euch Raum. / Euch fängt kein Engel, stürzt ihr / Von den Zinnen.“ (Jung Nr. 4003 Text vom 29.2.1936) Stehmann greift damit einen Text des Neuen Testaments auf: Der Teufel sagt zu Jesus, er solle sich auf die Zinnen des Tempels stellen und wenn er hinunterfällt, fangen ihn Gottes Engel auf. Jesus widerstrebt heftig dem Versucher. Das haben seine Zeitgenossen nicht gemacht. Sie sind dem Teufel auf den Leim gegangen. Die Bibel verhindert das Steckenbleiben in den jeweils aktuellen politischen Parolen. Sie haben auch mit Hilfe der Johannes Apokalypse, dem Danielbuch, dem Psalter gelernt, bildhaft, metaphorisch zu reden. Wird der biblische Gruppencode verwendet, sammeln sich diejenigen, die ihn verstehen. Wer diesen nicht versteht, wer das Reden aus dem Glauben nicht versteht, versteht gar nichts. Und das ist in Zeiten von Diktaturen ein Vorteil: diesen ist der christliche Glaube als Glaube egal. Darum kann man als Christ eben deutlich sprechen, ohne dass die Tyrannen es verstehen, aber die Glaubenden verstehen, ihnen werden die Augen geöffnet, sie bekommen Trost, Kraft, Mut. Im Umkehrschluss heißt das: Christen, die sich von der Bibel lösen, sind den Ideologen noch mehr ausgesetzt.

Im Anhang von Jung finden wir auch ein Gedicht, das im Rahmen der apokalyptischen Gedichte entstanden sein wird (Nr. 1301 vom 7.9.1938). Das Gedicht „Die Werke weiß ich wohl und deine Mühe“ endet: „Herr! Die Zeit vergeht vor dir. / Welt verbrennt in eigner Glut. / Menschen wandeln sich zum Tier, / Und das Tier verlangt nach Blut. / Werden Menschenherzen Stein, / Rüstest du zum Hammerschlag, / Und es wird der erste Tag / Deines letzten Wortes sein!“ Wenn Menschen sich vergehen, wird Gott sein Gericht herbeiführen.

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Kommen wir nun zu den Gedichten, die er in den letzten Jahren vor seinem Tod geschrieben hat. Er war Ende 20, Anfang 30 und an der Front.

Viele Gedichte von „Bruder allem Erdenbild“ beschreiben die Natur im Übergang zur Nacht. Es handelt sich – um meine Stimmung beim Lesen der Texte wiederzugeben – um Abendlieder, die Erwachsene vor dem Einschlafen beruhigen sollen. Es sind zarte Lieder, Lieder der Dämmerung, in der alles weich gezeichnet scheint.

Die Gedichte aus „Media in vita“ und „Media in morte“ beschreiben den Tod. Die Macht des Todes in der Natur, über den Menschen, über die Welt ist unübersehbar – und das Gedicht schließt mit der Entmachtung des Todes: „Dem Herren ward das Kreuz zum Thron! / Wer bist du noch, gewalt´ger Tod?“ Und auch wenn alles fremd ist: „Fremder Wind fährt um die Wände, / Fremdes Licht brennt warm und rot, / Und es brechen fremde Hände / Auf dem Tisch das fremde Brot. // Fremde Hände? Fremde Speise? / Hebe, Fremdling, dein Gesicht! / Ist nicht einer auf der Reise, / Der das Brot gen Abend bricht?“ Stehmann spielt hier auf die Emmaus Geschichte an, in der der den Jüngern unbekannte Jesus ihnen das Brot bricht – und sie erkennen ihn. Ähnlich auch in dem wunderbaren Gedicht: „Bin tief in der Erde, im Birkenhaus“ – das Gedanken wiedergibt, die er wohl hatte, als er eingegraben in einem Loch in Norwegen Stellung hielt. Die letzte Strophe lautet „Auf einmal aber wird alles so groß…. / Die schweren Balken heben sich los, / Und unter der Wölbung fühlen wir drei, / Die Nacht und die Glut und der Mensch dabei, / Wer, da wir stumm unser Haupt gestützt, / Mit uns an einem Tische sitzt.“

In den Gedichten lässt Stehmann deutlich werden, dass Gott / Christus überall ist. Überall muss man sich seiner vergegenwärtigen – überall ist also Heimat. Aber die irdische, „Die alte Heimat ist so krank / Und wird viel dulden müssen. / Ach Herr, sie weiß nicht, was sie tut. / Nimm sie und uns in deine Hut / Und gib ihr bessres Wissen.“ Sie wird, wie das Individuum bereit sein müssen, sich von allem zu lösen, bereit sein, sich auf die Wanderschaft zu begeben (vgl. Tagebuch 2.5.1939) – das Wort Gottes ist immer nah („Keine bleibende Stadt“). Hier haben wir Kritik an den herrschenden Zuständen – ganz sacht – eingebettet in die Normalität menschlichen Lebens. Er sieht, dass das, was Menschen seiner Zeit an Not erleben, das ist, was dem Menschsein schon immer zu eigen ist. Und in dieser allgemeinen Menschennot des Menschseins ist Gott nahe. Das heißt, er weist mit seinen Texten über die Ereignisse in der Nation hinaus – greift allgemein Menschliches auf. Für Nachgeborene mag das schwer fassbar sein – aber in seiner Zeit sahen viele das, was sie erleben, als etwas an, was Menschen immer und überall erleiden müssen. Wir sind heute fixiert auf die Zeit 1933-1945. Aber wenige Jahrzehnte vorher gab es noch Hungersnot in Deutschland, es gab wohl in jedem Jahrhundert Kriege, Hungersnöte, Leiden unter Mächtigen und gewalttätigen Gruppen – nicht erst 1933-1945. 1940 wusste man noch nicht, was wir heute wissen. Sie hatten Mosaiksteinchen an Beobachtungen. Das müssen wir berücksichtigen. Zudem: Wir sind fixiert auf die Nation von 1933-1945 – aber Christen geht es nicht nur um die Nation, der christliche Glaube ist international orientiert, am Menschen, nicht an Nation. Es geht mir nicht um Entschuldigen. Es geht mir um eine sachliche Einordnung. es geht nicht an, Unmenschliches von den damaligen Menschen zu erwarten.

Wenn man europäische Geschichte im Blick hat, dann ahnt man vielleicht auch ein wenig von der Dimension des Gedichts „Hab Dank“: Blut, Zerstörung, Ruinen, Feuer, Kampf lassen erkennen, was zählt, was ewig, was wirklich wichtig ist. Als Glaubender kann man Gott auch in einer solchen Zeit dienen. Wir wissen nicht, was Stehmann in diesem Gedicht anspricht. Es ist aber bekannt, dass er seinen Kameraden auch seelisch half. Er war ihnen Beistand, stärkte sie. In dem Gedicht „Weltherbst“ spricht er das Thema im Zusammenhang einer Schlacht an. „Da trägt ein jeder das Gesicht der Toten; / Denn jeder stirbt mit jedem in der Schlacht. / Dann sendet Gott uns aus als seine Boten, – / Und diese Stummen reden in der Nacht!“ Manche Gedichte handeln davon, dass dem Menschen, was er in der Hand zu haben glaubte, aus der Hand geschlagen wird. Und in einer solchen Zeit: „Der Glaube hebt sich wie die Wolke leis, / Und Liebe offenbart sich als das Größte.“ („Das Wunder“) Natur wird Gleichnis für den Glauben – und er findet in dieser Ruhe.   

Im matt verhängten Mondlicht“ spricht er seine Schuld an. „Doch plötzlich schlägt die Zeit dir eine Wunde / Und reißt die Pforte des Gewissens auf. / Ein kühles Wehen drängt zu dir herauf, / Und du erschrickst vor der gesandten Kunde! // Und bangend schaust du eine große Schuld“. Doch der Erkennende stürzt erwacht in Gottes Hand. Erwacht – es geht hier weniger um ein Aufwachen aus bösen Träumen – es geht vielmehr darum, dass man seine Schuld erkannt hat, dass einem die Augen für die eigene Schuld geöffnet wurden (zum Thema Schuld s. auch sein Tagebuch zum 10.3.1939). Diese zitierten Zeilen zeigen noch etwas: Man kann genau erkennen, in welchem Umfeld er sie formuliert. In diesem Gedicht liegt er auf der Wacht auf einem erhöhten Platz – und „kühles Wehen drängt zu dir herauf“ – „drängt“. Also nicht leichtes Wehen… Und das finden wir in vielen Gedichten. Wir sind unmittelbar dabei: „Von fern der ungeheure Schrei / Der todeswunden Wälder! / Dann wieder Ruh. Das Einerlei / Geht schweigend durch die Felder… In Wäldern weit verebbt die Schlacht, / Im Herzen nah der Kummer.“ (Zu „todeswunden Wälder“: Stehmann schreibt in dem Text „Die Wolke“ über eine glühendrote Wolke: „Die Natur ward in den Krieg der Menschen einbezogen, sie spiegelte ihn nicht nur, sondern nahm am Geschehen teil… Und all dies, Feindschaft und Brand, Zerstörung, Qualm, Jammer und Widerstand, verdichtete sich zu Häupten der Wälder und verweilte als Wolke über uns.“ Und er spürte eine große Kraft – und die Wolke als Gleichnis für Gottes Handeln, in dem er alles neu machen wird.) Das genannte „Mondlicht“-Gedicht ist kein Aufschrei gegen Krieg – es ist ein Beschreiben des Erlebten. Und gerade das macht es nicht zu einem Aufschrei gegen Krieg, aber zu einer schwer deprimierenden Wahrnehmung des Krieges.

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Schönheit, Gottes Schritte in der Welt – Gott spricht mit Hilfe von Bildern, um Menschen die Botschaft zu sagen – Gedichte sind der Versuch, die Schönheit der Welt mit der Botschaft zu verknüpfen und sei die Realität noch so bitter. (Vgl. Tagebuch vom 24.6.1939: „Es pflegt ja heute allgemein so zu sein, daß das einzig heilgebliebene Bild der Natur über die Zerstörung des Geistes-Bildes hinwegtröstet.“ Im Gedicht „Und so begegnet uns im Sommergarten“ (Jung Nr. 1298 vom 27.7.1938) formuliert er: „Im Spiel der Worte finden wir genügen, / Weil wir die ganze Wahrheit nicht vertrügen; / Und still verzichtend treten wir zurück.“ – es geht hier allerdings um die Grenzen, das zu beschreiben, was schön ist. Also auch in dieser Hinsicht Sprachlosigkeit, der Mensch ist begrenzt. Am 30.6. beschreibt er im Tagebuch die Zeit: „Brutalität und geformte, gebändigte, zuchtvolle Herzlosigkeit. In beiden nicht einmal mehr der Traum des Christenglaubens. Die Erde tanzt auf Bajonettspitzen und nennt das geeinte Ordnung.“) Seine Botschaft lautet: Gott ist anwesend. Als Bote Gottes hat man das auch in den schlimmsten und abgründigsten Situationen zu sagen, wenn auch schweigend. Dass es aber nicht leicht war, in dieser ideologisch verlotterten Welt in Gleichnissen zu reden, schreibt er am 25.5.1939: „Ich spüre die grauenhafte Not des inneren Reiches mit körperlichen Schmerzen und sammle mich mühsam um die Gleichnisse unseres Glaubens.“ Er erkennt die „radikale Theodizee-Frage, totale Resignation, gedämpfte Verzweiflung, Harmonie durch Verzicht, tiefe Melancholie und Müdigkeit“ (1.7.). Und in den Gedichten, die Jung im Anhang anfügt, die nicht in „Brennende Jahre“ zu finden sind, kommt das stärker zum Tragen: Einsamkeit, Unerfülltheit, Sehnen, Leid, Kälte. „Hier bin ich! Herr! Wo aber ist dein Quell, / Daß ich mich niederbücke, draus zu trinken?“ (Nr. 2139) Als Freunde nennt er „Bilder, Wünsche, Sehnen, Hoffen“ (Nr. 1099 von 1942) In „Die Berge“ (Nr. 1104) greift er einen Text des Römerbriefes auf (8,18-22): „Ach! Einmal muß die Sehnsucht münden / Dem Baum, dem Tier und dem Gestein. / Wann wirst du deine Botschaft künden, / O Herr, und gegenwärtig sein?“

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Wenn man in seinem Norwegischen Tagebuch liest, kann man freilich äußerst aggressiv werden, da mitten im Krieg die Idylle beschrieben wird. Stehmann selbst erkennt das Absurde: „Das alles klingt nun so, als erzähle ein Reisender von seiner Wanderung. Aber sollen wir nicht auch aus dem Gesicht des Krieges die unzerbrechlichen Ordnungen lesen, die das Verhängnis, die Bedrohung aufhalten und die schmerzliche Zeit des Wartens, das oftmals allzu stark gefühlte Leid, die Verwirrung ganzer er Existenzen ins Gute, Tragende, Helfende umwenden?“ Er rührt „mit fast jedem Wort an die Grenzen…, vor denen man am hellen Tage allzu leicht zurückschaudert.“ Hieran wird insgesamt die Haltung deutlich, die oben im Kontext der Gedichte beschrieben wurde. Und das auch mit Blick auf den Glauben. Der Mensch bleibt auch in Extremsituationen Mensch. Manche klagen unentwegt, manche suchen das Positive. Manche versuchen alles, aus dem Glauben heraus zu bewältigen. Für manche ist alles ganz schnell Alltag. Vom Glauben ist aber in dem Tagebuchauszug so gut wie nicht die Rede. Er bleibt Thema der Lebensbewältigung im Rahmen der Gedichte.

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Die Gedichte von Stehmann zeigen, dass er einer der ganz großen Dichter des christlichen Glaubens ist: Gott wird dem Verderber-Menschen entgegengesetzt. Der Mensch ist diesen Verderbern nicht ausgeliefert, weil er eine weiter gehende Perspektive hat: die Perspektive der Ewigkeit – nicht die der vergänglichen Zeit. Das Sehen der Schönheit bedeutet: Der Mensch versinkt nicht im Grauen, da er den Grundton der Schöpfung des liebenden und gnädigen Gottes als Hilfe zum Überleben versteht. Der Mensch in seiner Arroganz und seiner Hybris wird Gott entgegengesetzt, der den Menschen in die Schranken weisen wird. Der Mensch bekommt die Möglichkeit, sich nicht nur als bösartig zu begreifen, sondern als Ebenbild Gottes – als, um es weiterzuführen, einer, für den Jesus Christus gestorben ist, der Tempel des Gottesgeistes ist – und als ein solches hat er die Chance, sich dem Anruf Gottes zu öffnen. In dem Gedicht „Wunder am Abend“ (Jung Nr. 2149 vom 9.7.1932) schreibt er Gott ansprechend: „Abendlich bist Du im Innern / Auch der himmelfernsten Brust. / Wie ein Ahnen, ein Erinnern, / Und ihr selber unbewußt. // Gott. Du weißt. Das sind die Zeichen / Werdender Erneuerung. / Gib Du, daß sie Dich erreichen / Zu erneuter Heiligung.“