In dem Werk von Kasack (Christus in der russischen Literatur, Urachhaus 2000) wird Sergej Jessenin (148-154) genannt. Dieser hat in seiner Jugend den christlichen Glauben kennen gelernt, schildert eine visionäre Jesus-Begegnung, hat den Glauben vertreten, hat sich jedoch, als die Revolution kam, gegen den Glauben gewandt, nachdem er zuerst die Revolution mit der Wiederkunft Christi verbunden hatte bzw. den Glauben ambivalent sah. Freilich kam er auch mit der Revolution nicht klar. Sein altes christliches Leben brach sich immer wieder Bahn.
Diese Bände liegen mir vor: Sergej Jessenin: Gedichte. Russisch-deutsch, hg.v. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1988; zudem sind in Etkind zahlreiche Gedichte abgedruckt worden. Und: Sergej Jessenin: Gedichte. Russisch und deutsch Übertragungen von Karl Dedecius, Langewiesche-Brandt, München 1988; zudem: Sergej Jessenin: Der Winter singt – es ist ein Schreien. Gedichte 1910-1925 ausgewählt und übersetzt von Erich Ahrndtl Leipziger Literaturverlag 2010; Sergej Jessenin: Erstrahl, mein Stern! Gedichte und Poeme, Hg. v. und übersetzt von Eric Boerner, Berlin 2012. Erst später habe ich viele weitere Gedichte auf stroki.net entdeckt und habe sie eingearbeitet. Es könnte sein, dass das eine oder andere nicht ganz stringent zusammengeführt wurde.
In dem Gedicht „Offenbarung“ von 1914 schildert er eine Vision. Er befindet sich mitten in der schönen Natur, dann sieht er Jesus. In dem Gedicht heißt es: Jesus „ruft mich zu den Eichen, wie zum Himmelreich / Und brennt im Purpurbrokat / Wolkenbedeckter Wald, / Ein Taubengeist von Gott / Wie eine Feuerzunge / Nahm meinen Weg in Besitz, / Übertönte meinen schwachen Schrei.“ Oder er spricht – mit Blick auf eine andere Form der Offenbarung – davon, dass die Mutter Jesu ihren auferstandenen Sohn zur Kreuzigung freigeben muss und dass Christus in den Obdachlosen anwesend ist – und der Autor befürchtet, dass er ihn nicht erkennen wird https://stihipoeta.ru/1526-ne-vetry-osypayut-puschi.html
Soweit ich sehe, bekommen wir ab 1914 auch einen anderen Klang in den Gedichten. Es ist das Wissen, dass er nicht im Glauben sein Leben führt: „die dunkle Macht gewöhnte mich an Wein“ („Ich war noch nie so müde“) Sehr stark werden religiöse Aspekte „säkularisiert“: Aus dem Bach trinken – wird mit dem Abendmahl verbunden, Wälder sind die Kirche, er betet zur Erde, zur Straße – aber dennoch hat er in dieser Übergangszeit „Jesus im Herzen“ („Ich bin ein elender Wanderer“) – und auch wenn er sich von Jesus abwenden will – er spürt doch, dass Jesus einen Fuß in seine Seele gesetzt hat.
In einem Gedicht (1912), in dem der anbrechende Abend geschildert wird, wird das Gebet eines Menschen genannt, der den „Herre Jesu Christe“ um Beistand bittet. Insgesamt wird eine schöne Abend-Stimmung geschildert – und es schließt: „Und im Herzen ruhn Reliquien und Stille“ (Etkind 308). Im Herbstgedicht (1916) wird der Wind geschildert, der die Blätter von den Bäumen wirbelt und in den Ebereschen Jesus Christus ahnt, „dem er hier die roten Martermale küsst“ (Etkind 310). Auch in stihipoeta.ru werden zahlreiche Gedichte von Jessenin genannt. Darunter https://stihipoeta.ru/1468-alyy-mrak-v-nebesnoy-cherni.html – in dem Gedicht von 1915 heißt es unter Aufnahme des Psalters, dass die Morgenröte selbst ein Psalm ist, die zur Wahrheit des Kreuzes und zum Licht des Buches einer Taube (des Heiligen Geistes?) führen wird. Jessenin steht fest im Glauben seiner Kirche.
Die „Morgenröte“ – ein häufiges Bild, das in Jessenins Gedichten vorkommt. Es ist positiv besetzt. Erst hat es massive natürliche und christliche Konnotationen, dann, ab 1918, wird es stark mit der kommunistischen Revolution verbunden. In der „Kantate“ besingt er zum Beispiel die für die Revolution gestorbenen Märtyrer: „Durch euch bewegt sich das Heer zu den / Morgenröten der Weltvölker“. An der Verwendung dieses Bildes kann die emotionale wie weltanschauliche Stimmungslage von Jessenin abgelesen werden.
In einer Übergangszeit vom christlichen Glauben zur kommunistischen Revolution verbindet Jessenin Christus mit der Revolution: „In einer Bauernkrippe / Ward eine Flamme geboren / Der ganzen Welt zum Heil [Frieden]“ (Christiane Auras: Sergej Esenin. Bilder- und Symbolwelt, Otto Sagner Verlag 1965, 123 [Slavistische Beiträge 12a]), zudem wird das leidende Russland, das leidende Volk mit dem leidenden Christus verbunden. Aber in dem Sinne, dass Russland leiden muss – um wieder auferstehen zu können. Lenin wird im Gedicht „Ländliches Stundenbuch“ als neuer Erlöser besungen: In den Abschnitten 1 und 2 kämpft Jessenin gegen seinen alten Glauben an, indem er Jesus sonderbar negativ darstellt. Im Abschnitt 3 verteidigt Jessenin seinen alten Glauben, denn er weiß ja im Grunde nichts, wurde nur in einer kirchlichen Schule ausgebildet. Was er aber weiß, das ist, dass es gilt, sich anzupassen, das ist besser, als gefoltert zu werden. Das alte Russland stirbt. Nun soll die Wolga jubeln (Lenin wurde an der Wolga geboren), weil das jungfräuliche Russland ein neues Kind bekommt, das seinen Kopf aus dem Schoß des Himmels heraustreckt.
In dem Gedicht (Inonien 1918) aus der Zeit, in der er mit den neuen Machthabern anbändeln will, heißt es unter Aufnahme des Abendmahls: „aus dem Munde spei ich ihn, deinen Leib“. Er spricht – und das sei angemerkt: Christus an. In Inonien setzt er sich für eine Utopie ein, die gegen das alte gläubige Russland gerichtet ist – und die ganze Welt beherrschen wird. In diesem Land seiner Utopie lebt eine neue Gottheit. Alle alte Glaubenstradition wird zerstört, Stundenbücher/Gebetsbücher werden zerhackt, Christus werden die Hosen heruntergerissen, erwartet wird der neue Heiland: „Ja, unser Glaube – : / in der Kraft, nur da! / Ja, unsre Wahrheit -: / in uns, ja!“ (Ü: Paul Celan) Das soll, so Mierau im Nachwort, keine Blasphemie sein, keine Auflehnung gegen Gott, „sondern vielmehr als die radikale Zerstörung einer erstarrten, sinnentleerten Metaphorik mit dem Ziel, neue Durchblicke zu erlauben“ (234). Auras sieht das anders: Hier löst sich Jessenin von seiner Sicht, dass das Leiden notwendig ist, um zum großen Ziel zu kommen (128). Das positiv zu interpretieren ist aus meiner Sicht nicht ganz nachvollziehbar. Sicher, er wendet sich als junger Bilderstürmer gegen Ikonen. Aber wie die letzten Zeilen zeigen, ist das utopische Land ein Land ohne Christus, ein Land, in dem Christus erniedrigt wurde: den Himmel wollten die Revolutionäre stürmen („Pantokrator IV“). In seinem Brief an die Mutter“ (1924) möchte er zurück zur Mutter, bittet sie jedoch „Lehr mich nicht beten. Laß es sein. / Neu zum Alten kehr´n wir nicht zurück.“ (Ü: Kirsch) Und zurück im Dorf („Rückkehr in die Heimat“ [1924]) sagt ihm der Großvater: „die Welt wird toll, / und schmeißen die Ikonen auf den Boden, // vom Kirchturm schlugen – `Nur um mich zu quälen!´- / sie frech das Kreuz. Wo soll man beten, ach? / Gebet, heimlich unterm Blätterdach, / zu Baum und Wind, wird sie der Herrgott zählen?“ In diesem Gedicht, dass die Auswirkungen der Revolution auf dem Dorf zeigt, beschreibt sich der Autor selbst aber ambivalent. Es wird weiter geschildert, dass ihm das Bild von Lenin nicht als Ikone dient, aber dass er sich, kaum zu bemerken, vor Lenins Mütze verneigt. Das Kapital von Marx und Engels liegt als Bibel auf den Knien – aber er hatte nie Lust, es zu lesen (Ü: Endler). Interessant ist, dass Lenin eine Rolle spielt – aber Marx dem Langweiligen zugeordnet wird (auch in den Stanzen). Er zieht despektierlich über Nonnen her („ziehen nachts die Hosen Christi aus“, Kasack) und angesichts des vergossenen Blutes verflucht er Glauben und Liebe (https://stihipoeta.ru/1506-ispoved-samoubiycy.html). Immer stärker kommt das Leiden der Menschen in den Blick, getötet vom Leben. Aber ebenso auch seine Trunksucht, wegen der er sich ins Gebüsch legt, nachts herumgrölt. Soweit ich sehe, sieht er das, was die Trunkenheit mit ihm macht, nicht negativ – aber sie zerstört ihn. Hat sie Auswirkungen auf seinen Glauben? „Ich bin auf die Erde gekommen, um sie möglichst schnell zu verlassen.“ (https://stihipoeta.ru/1514-kray-lyubimyy-serdcu-snyatsya.html)
Mit der Revolution kommt er nicht klar. Er merkt, dass er diese Welt nicht akzeptieren kann. Das wird auch deutlich in vielen Gedichten, so in dem Gedicht, in dem er seine Auseinandersetzung mit dem Verleger wiedergibt, der mit seinen Gedichten nicht einverstanden ist. Jessenin gibt zu, dass er in neuen Gefühlen der Revolution schwelgt, dass er versucht, den neuen Augenblick zu begreifen – aber er lässt seinen Bleistift noch unbeholfen über das Papier gleiten. In „Unbehagliche flüssige Trübsal“ beschreibt er seine Abwendung von der Vergangenheit, dann seine Hinwendung zum neuen Russland – gibt aber zu: „Ich weiß nicht, was mit mir passieren wird… / Vielleicht bin ich nicht fit für ein neues Leben“ – wendet sich ab von der bäuerlichen Tradition, hin zu den von den Sowjets gepriesenen Maschinen. Er bemerkt die dunklen Seiten der Revolution und schreibt in: „Du bist meine Seite“: „Nein, es ist besser für mich, nicht hinzusehen, / Um nicht plötzlich das Schlimmste zu sehen.“ Auf seinem Grabstein möchte er geschrieben sehen: „Er liebte seine Heimat und sein Land, / Wie ein Trinker ein Wirtshaus liebt.“ („Brenn, mein Stern“) Das Gedicht „Der vergehende Rusj“ beschreibt, wie er selbst klarsichtig erkennt, dass er mit einem Bein noch im Alten steckt – aber mit dem anderen Bein in der neuen Zeit. Aber er kennt auch die Menschen, die die Welt nicht mehr verstehen (solche, wie seinen Großvater) – und sie werden umgemäht, unbeachtet, im Gestank: „sie sterben in sich selber und allein“. Und er? Er bedauert: Statt sich mit den anderen revolutionär zu erheben, hat er seine Zeit verspielt, hat in seiner Jugend nicht wie die Revolutionäre gekämpft, sondern seine Zeit vertan. Schon 1919 erkannte er, dass sein Inonien nicht eingetroffen ist: „Alles zu erkennen, nichts zu greifen, / war der Dichter bei der Welt zu Gast.“ (Ü: Celan) Und er besingt im Gedicht über Sowjetrussland, dass keiner ihn mehr kennt, alle haben anderes im Sinn, sie leben anders – im Grunde fühlt er sich wie einer, der nicht mehr von dieser Welt ist. Er war massiv ernüchtert angesichts dessen, was er mit den Bolschewiken erlebte – die er begrüßt hatte. In „Quäl mich nicht mit gemachter Kühle“ (1923) wünscht er sich in seine Jungenzeit zurück „das zu ersehnen, was neu sich gründet, / Was unbegreiflich, was keiner ersann, / Wofür das Herz keine Worte findet, / Und was noch kein Mensch benennen kann.“ (Etkind 314)
Die melancholischen Gedichte gehen über in Gedichte, in denen das Sterben in den Blick kommt, die Verlassenheit: er stirbt, so stellt Jessenin es sich vor, den Suizid, wird begraben ohne Sakrament, die Birke schwingt ihren Weihrauchkessel – aber dann ist alles wie vorher, nur ohne ihn. Er haucht seine Seele in Moskau aus, so Gott will, bei seinem Gang durch die Kneipen, bzw. in der Übersetzung von Ahrndt (69) schreibt er 1922 in dem Gedicht zweimal: „Auf den winkligen Moskauer Straßen / Hat mir Gott wohl zum Sterben bestimmt.“ (Allerdings kann das Wort auch als „gerichtet“ – Gott hat mich gerichtet übersetzt werden.) Sein letztes Gedicht (1925) spricht den Freund an – und sagt „auf Wiedersehen“, es spricht von „Vorherbestimmung“ – und die letzten zwei Zeilen lauten: „Sterben – nun, ich weiß, das hat es schon gegeben; doch: auch Leben gabs ja schon einmal.“ (Etkind 319f.) Eine andere Übersetzung: „In diesem Leben zu sterben ist nichts Neues. / Aber unser heutiges Leben birgt auch nichts Neues.“ (Rullkötter als Übersetzer des Buches von Witali Schentalinski: Verfolgte russische Schriftsteller in ihren letzten Briefen, Gedichten und Aufzeichnungen, Lübbe 1996,554) Schon in den Jahren vor der Revolution war das Thema Sterben für ihn wichtig. So schreibt er in dem Gedicht von 1916 „Dichter zu sein bedeutet dasselbe“: „Nun, ich werde als Landstreicher sterben / Auf Erden, und das ist uns vertraut.“ Er kam mit seinem Leben nicht klar. Einerseits deprimiert es ihn, und er ist unzufrieden mit dem, was er daraus gemacht hat, andererseits verteidigt er es aber auch, vgl. „Unaussprechlich, blau, zärtlich“ und „Der Wind pfeift unter einem Zaun“.
Jessenin – ein Dichter in zwei Welten: in der Welt Gottes – mit dem Versuch, in der Welt des Anti-Gottes zu leben (aber kann es dann auch irgendwie doch nicht). Seine späten Gedichte zeigen immer wieder, dass er zu den Naturbeschreibungen zurückkommt. Aber was den Glauben betrifft, schreibt er 1923: „Schäme mich, daß an Gott ich glaubte / Bitter, daß ich das jetzt verlor.“ (Ahrndt 77) „Die Seele trauert um den Himmel“ – aber „die Sprache der Erde ist mir klar, / Aber ich werde diese Angst nicht abschütteln.“ Ich möchte zu dem eine Zeile aus seinem Gedicht „Für Kljujew“ zitieren: „Die Mühle mag die Flügel schwingen – / auf in den Himmel fliegt sie nie.“ (Ü: Rainer Kirsch) Er lebte, wie Georg Lukács schreibt, in „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurter-anthologie-in-meiner-heimat-leb-ich-nicht-mehr-gern-von-sergej-jessenin-17309137.html )
Auras https://library.oapen.org/bitstream/id/ beschreibt eine Fülle an religiösen Metaphern. Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass ich all diese Gedichte hier nicht vertieft habe. In einem Gedicht aus dem letzten Lebensjahr schreibt er zum Beispiel: „Was gewesen, was nicht, mir ist alles recht, / Nur mit dreißig tut´s weh zu gestehn: / Hab als Junger in Kneipen gequalmt, gezecht, / Statt die steilere Straße zu gehn.“ (Ahrndt 103) Damit wird ein Bildwort Jesu aufgegriffen, das wir im Matthäusevangelium finden: der Weg zum Leben ist schmal, nur wenige werden ihn gehen (7,14). Er hat es mit dreißig Jahren nicht mehr geschafft, einen neuen Weg einzuschlagen. Die Zeit war auch für Menschen wie ihn gefährlich, für Menschen, die sich nicht ganz auf die Seite der Revolutionäre schlagen konnten: sie waren Verhören, Foltern und falschen Beschuldigungen ausgesetzt. In seinen Gedichten wird deutlich, dass er ehrlich war und nicht den kommunistischen Gleichschritt heuchelte. Er hatte Angst: „Beruhige dich, Sterblicher, und fordere nicht / Die Wahrheit, die du nicht brauchst.“ Ich finde, dieser Satz aus dem Gedicht „Das Leben ist eine Täuschung mit bezaubernder Sehnsucht“ gibt das Ermatten des Dichters sehr gut wieder.
Während die Glaubensgedichte Gedichte sind, die aus dem Herzen strömen, sind die Anti-Gedichte keine positiven, weiter führenden Texte, sondern versuchen zeitweise, die alte Lebensbasis extrem zu negieren. Es zählt nicht das Bekenntnis – es zählt das Anti-Bekenntnis. Dem Bekenntnis des Herzens werden künstlich-konstruierte „Hass“-Aussagen entgegengesetzt. Was Jessenin betrifft: Jessenin, der bei seinen Großeltern aufgewachsen war, beschreibt seine Großmutter als fromme Frau und seinen Großvater als Trinker. Die Großmutter beschreibt er negativ, den Großvater eher erheiternd (er feierte immer Hochzeiten ohne dass geheiratet wurde) – dabei war auch der Großvater ein frommer Mann. Jessenin selbst ist, wie gesehen, Alkoholiker geworden und hat dann 1925 seinem Leben mit 30 Jahren ein Ende gesetzt.