Paul Verlaine (1844-1896)
Verlaine war ein guter Schüler – bis das Dichten und die Dichterkreise ihn stärker beschäftigten. Er studierte Jura, die Literaturkreise interessierten ihn jedoch mehr. Schon früh begann er zu trinken, wurde Alkoholiker, sein Vater brachte ihn beruflich bei einer Versicherung unter. Nachdem dieser gestorben war, verfiel Verlaine zusehends. Er verübte zwei Mordversuche an seiner Mutter, die ihn aber immer wieder bis zuletzt unterstütze. Er heiratete 1870 eine viel jüngere Jugendliche, misshandelte seine Frau massiv, mit der er einen Sohn hatte. Er schloss sich der revolutionären Pariser Kommune an, verlor deswegen seinen Job, hatte aber finanzielle Unterstützung durch seine Mutter. Nachdem er auch an seinem seit 1871 Geliebten, Rimbaud, einen Mordversuch begangen hatte, kam er ins Gefängnis (1873-1875), wurde Christ. Er versuchte sich mit seiner Frau zu versöhnen, was misslang, versuchte ein Leben im Kloster, versuchte sich mit Rimbaud zu versöhnen – aber beide verprügelten sich alkoholisiert, was Verlaine erschütterte: wie schnell hat der Satan wieder von ihm Besitz ergreifen können! Er hat nach seiner Entlassung wieder die christlich-intensive Spur verloren, aber Sehnsucht danach. Hatte dann wohl 1877 eine sexuelle Beziehung mit einem seiner Schüler (wurde deswegen als Lehrer entlassen), bekam Syphilis, wurde obdachlos, nach einem erneuten Tötungsversuch an seine Mutter kam er wieder ins Gefängnis. Versuchte danach wieder auf die Beine zu kommen. Dann wurde er am Ende seines Lebens vielfach geehrt.
Seine Gedichte, die mir vorliegen (Paul Verlaine: Gesammelte Gedichte. Eine Auswahl der Besten Übertragungen, Der Werke erster Band, Insel-Verlag, Leipzig 1922), sind sehr sensibel. Feinfühlig schildert er Natur – schildert den Menschen, sich selbst in der Natur. So in seinem berühmten Herbstgedicht. Es sind Gedichte, in denen der Traum häufig vorkommt, die Erinnerung, das Vergehen, die Sterblichkeit des Menschen. Gott ist ihm fremd: „Wer glaubt an Gott noch? Nichts kann mich vertiefen. / Hier ist nicht Heim. Und von der Liebe, dieser Ironie / soll man mir schweigen wie von Weibern, die entschliefen.“ („Furcht“; Ü.: Zech) Gott und Liebe – sind verloren. Dennoch ist Religion befreiend, vergebend, wenn auch ambivalent, weil sie Gewalttaten vergeben kann („Der Tod Philipp des Zweiten“; Ü.: von Gumppenberg). Er beschreibt in dem Gedicht „Der Schlaf der Geliebten“, wie er ihrem schönen Schlaf zusieht. Die letzte Zeile spricht jedoch von seiner Angst: „Wach auf! Schnell! Sag: ob auch die Seele sterben kann!“
Wie oben beschrieben, kam Verlaine nach einem ziemlich chaotischen Leben ins Gefängnis. Im Gefängnis wurde er Christ, was er wohl in „Mirakel“ beschreibt. Dieses neue Leben empfindet er so: „und voll Dank / sang all mein christlich Blut den reinen Sang“ („Dich sah ich wieder“; Ü.: Schaeffer). Die Gedichte aus dieser Zeit sind ein steter Kampf mit seiner Vergangenheit – Beichten – vergessen wollen – und mit sich selbst, gegen die alten zerstörenden Stimmen. Diesen ruft er zu: Sterbt! „Sterbt im Hall der Stimme, die das Gebet empor / zum Himmel trägt“ („Die Stimmen“; Ü.: von Scholz). Mit zarten Worten besingt er die Stimme der Wahrheit: „und sie rühmt den Ruhm der klaren / Einfalt, die sich Gott verband, / rühmt den Frieden, jenen wahren, / der aus keinem Krieg entstand.“ („Das linde Lied“; Ü.: Zweig) Und hofft auf Vergebung: „Doch hoffe ich fest auf den Tag der Verzeihung dem Frommen: / uns Christen versprochen! Ein ewig geruhter Verbleib.“ („Was sagst du…“; Ü.: Däubler). Ein neues Leben beginnt: „es lebt etwas in uns, das ahnt das ungeheure Licht / des Friedens, die seelenfrische köstlich weißer Reinheit. // Und seht! Unser Herz, das unterm Stolze fast verblutet, / entbrennt aufs neu in Liebe, und es klopft und glutet / dem Leben hin, zu sterben über aller Gemeinheit.“ („O ihr, wie einer…“; Ü.: Kiesgen) In „Stimme des Engels spricht er die Heiligen an: „Und Sündige sonder Zahl / In Reu sich mühend, / Glühend in Sehnsuchtsqual, / Und rein sich glühend: / Wohl mir, ich darf euch schaun, / Darf eurem Vorbild traun!“ Er befürchtet jedoch einen Rückfall: „Ein rasender Anfall, der letzte auf Erden! / O du, geh beten gegen den Sturm, geh beten!“ („Es glänzten“; Ü.: Wolfenstein)
Er kam ab vom Weg. Und so schreibt er in dem Gedicht an Baudelaire (1892: „Geheime Gebete“), der ihn schon seit der Jugendzeit beeinflusste: „Du stürztest, betetest wie ich, wie die Beseelten, / die hungernd, dürstend. Lüsternd ihren Weg verfehlten, / bis sie der Hoffnung Schönheiten zum Kreuzweg stießen. // Zum wahren Kreuzweg, den sie zweifelnd nie verließen: Im Hin und Her!“ (Ü.: Däubler)
Spannend sind die Gedichte nach seiner religiösen Phase. Ein Mensch tritt an die Stelle Gottes. Dieser Mensch wird aber in allen Gedichten in irgendeiner Form mit Gott verbunden: „unsre Liebe fließt aus seiner Kraft“ („Ich fluchte Gott“; Ü.: Wolf). Aber dennoch trauert er: „O reiche Zeit, da ich noch gläubig war!“ („Einst war ich gläubig“; Ü.: Zweig) – und er kämpft um seinen Glauben (z.B. in: „Er spricht noch“): „Christus, mein Bruder, die Pforte ist zu. / Die Finger klopfen sich krumm, / Verzweiflung jagt mich im Kreise herum, / und ich weiß: nur der Tod schafft Ruh!“ (Ü.: Zech)
In „Geheime Gebete“ (1892) wird die Liturgie der Gottesdienste aufgenommen und mit ein paar Schwerpunkten dargelegt: Weihnachten, Heilige drei Könige, Gloria in excelsis, es folgt ein Glaubensbekenntnis, die Himmelfahrt, Pfingsten, der Juni mit seinem Fronleichnamsfest, es folgen das Sanctus, Agnus Dei, unter anderem die Ergebung. Er beendet die liturgische Zusammenstellung in dem mir vorliegenden Werk mit dem „Finale“, in dem er begründet, warum er diese Gedichte geschrieben hat: Er schrieb die Lieder als Sünder zu Gottes Ruhm und Ehre, wegen der Vergebung, der Liebe – und das Gedicht mündet ein in das Gebet: „Und nimmst du gnädig auf mein Elend und meine Schmerzen, / hier sind sie Herr…“ (Ü.: Kiesgen). Und darum geht es in all diesen Gedichten: Um die Gnade, das Erbarmen Gottes mit dem Sünder – und dass der Mensch eigentlich nichts Gott geben kann. Er tut Buße, er bekommt Gottes Ehre. In seinem wunderschönen Gedicht „Ostern“ (aus dem Nachlass) bedauert er, dass der Mensch noch immer nicht den Weg nach Galiläa fand, um dem Auferstandenen zu begegnen, trotz der Glocken klingenden und Gold strömenden Osterfeier.
Das „Agnus Dei“ – in Aufnahme und Reflexion des liturgischen Liedes: Jesus, das Lamm Gottes. Zielgerichtet rennt das Lamm los in Leiden und Tod, Maria leidet. Durch Leiden und Tod stößt es auf das Tor zur Befreiung, Weihung, Erbarmung, Frieden. Es ist gerecht im Gericht – „erbarm dich dessen, was wir sind!“. Als Gerechtes stößt es auf das Tor zur Befreiung, Weihung, Erbarmung, Frieden. Aber vielleicht darf man es gar nicht so genau interpretieren wollen. Verlaine beeinflusste mit seinen „musikalischen“ Texten viele Dichter. Zur „Dichtkunst“ schreibt er: „Du sollst es nicht nach Regeln zwingen, / laß dein Gedicht im Winde wehn, / laß es gelöst zu Hauch zergehn: / Musik, Musik vor allen Dingen!“ (Ü.: Schaukal) „Agnus Dei“ wurde von Stockhausen vertont.
Was die Gedichte Verlaines so besonders macht: Er ringt im Glauben. Er erkennt die Schönheit des Glaubens – und zeichnet die Tradition neu, indem er sich hineinzeichnet. Und es ist auch hier wieder zu erkennen: die Nähe von Gedichten und Gebete.
Zu biographischen Angaben s. unter anderem: Enid Starkie; Das Leben des Arthur Rimbaud. Neu hg. v. von Susanne Wäckerle, Matthes&Seitz, München 1990.