Paul Johann Ludwig Heyse (1830-1914)

Paul Johann Ludwig Heyse (1830-1914)

Paul Heyse war Schriftsteller und Übersetzer. Er galt in seiner Zeit als Dichterfürst, als Maßstab für Autoren seiner Zeit. 1910 bekam er den Literaturnobelpreis. Er wuchs in einem sehr angesehenen Elternhaus auf, Kultur war von Seiten der Mutter und des Vaters sein „natürliches“ Umfeld. Durch seine Mutter, eine Cousine der Mutter von Felix Mendelssohn Bartholdy, lernte er viele Kulturschaffende kennen, darunter auch solche, die ihn förderten. Er studierte klassische Philologie, Kunstgeschichte Romanistik, hatte eine Affäre mit einer Professorenfrau. Sein Vater gab, als Heyse 20 war, anonym ein Werk seines Sohnes heraus, er bekam Preise seines Dichterkreises, reiste zu Studienzwecken nach Italien, bekam im Vatikan Hausverbot, weil er sich unerlaubterweise Notizen von Handschriften machte. Er knüpfte auch in Italien viele Bekanntschaften mit Künstlern. Das war eine seiner Stärken: Mit allen möglichen Menschen seiner Zeit Kontakte zu knüpfen, andere Dichter zu unterstützen. Er wurde nicht nur Dichterfürst, sondern auch Grandseigneur der literarischen Szene. Mit 24 Jahren wurde er in München vom bayerischen König fürstlich entlohnt und durfte Vorlesungen halten, an königlichen Symposien teilnehmen. Er war also gesellschaftlich (nicht erst jetzt) in der Elite angelangt. Mit anderen gründete er einen Dichterverein „Die Krokodile“, der Versuch, Dichtung mit Blick auf die Antike und dem Orient als heilige Handlung samt Weinlaubbekränzung zu zelebrieren. Allerdings spielte dieser Verein dann keine große Rolle mehr als der Mäzen, der bayerische König Maximilian II., 1864 gestorben war. Als Heyse 38 Jahre alt war, wurde ihm vom bayerischen König das Geld nicht mehr gezahlt, weil er in einem Gedicht den preußischen König als künftigen Kaiser feierte. Dennoch war er in Bayern keine persona non grata. Die Paul-Heyse-Villa wurde Begegnungszentrum für Künstler. Er wurde 1871 Mitglied des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst. Als er einen anderen Schriftsteller als Mitglied wählen lassen wollte, machten die „klerikalen Kreise“ nicht mit – dann trat er aus dem Orden 1887 aus. Auch in Amerika nahm man von ihm Notiz, er wurde in die „American Philosophical Society“ gewählt. Mit weiteren Ehrbeugungen wurde er überschüttet. Soweit ich das wahrnehme, versuchte er die Dichter des deutschsprachigen Raumes miteinander zu vernetzen, das Selbstbewusstsein der Dichtkunst zu fördern – und er war das Zentrum dieses Netzes. Aber keine Spinne, im Gegenteil, er scheint sehr human gewesen zu sein, auch politisch ein Mann der Mitte, Bismarckfan, aber keiner, der nicht politisch unabhängig blieb. Er wurde sehr verehrt – aber dann: Manche Autoren versuchten sich heftig von ihm zu lösen, sich in der Ablehnung zu profilieren, jüngere Dichter konnten oder wollten mit seinen Werken nicht mehr viel anfangen. Dennoch bekam er 1910 den Nobelpreis für Literatur.

Ich habe das so ausführlich dargelegt, weil es so manches mit Blick auf seine Gedichte relevant ist.

Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Heyse und: Paul Heyse, Gesammelte Werke III,5: Hadrian/Alkibiades. Gedichte und Übersetzungen; Lebensbild von E. Petzet. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Norbert Miller, Georg Olms, Hildesheim u.v.a. 1991 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1924)      

Paul Heyse scheint mir ein Mensch zu sein, der die Moderne vorwegnimmt: Gott spielt im Grunde keine Rolle. Es sieht anhand der Gedichte so aus, als hätte er sich nie mit ihm tiefer beschäftigt. In der Theodizeefrage kommt der Glaube vor mit Blick auf seine gestorbenen Kinder (Marianne gestorben 1869 im zweiten Lebensjahr und Wilfried gestorben 1877 mit sieben Jahren), aber insofern er den Trost ablehnt, sich dem Schmerz ausliefern möchte. In „Meinen Toten“ (IX) reflektiert er sein Leiden mit Blick auf Gott. Er werde sich nicht zum Danken zwingen, er werde sich Gott nicht beugen – Gott selbst sei unglücklich, hülle sich in Finsternis. Aber: Der Autor ist ein Teil von ihm – Gott selbst denkt das Ganze, die einzelnen Menschen sind ihm egal. Wer das All lenkt, kann sich nicht um Mücken kümmern. Dieser Abschnitt endet damit: „Doch eh´ mir seine Weisheit das Warum / Nicht offenbart, schweigt mir von Vatergüte! / Wo blieb´ ein Vater seinem Kinde stumm, / Wenn schon aus einem Wort ihm Trost erblühte?“ In „Meinen Toten“ (X) spricht er zu dem verstorbenen Mädchen, reflektiert die eigene Trauer. Er kommt zu dem Schluss, dass „Nichtsein köstlicher als Sein“ sei, dass „Leben / Ein Irrtum nur“, was Gott zu spät erkannt habe. Die Liebe als Ausdruck des Schmerzes adelt den Schmerz. In „Wilfried“ beschreibt er, dass es besser sei, anstatt sich trauernd einzuspinnen, nach Italien zu reisen. In diesen Gedichten wird der Trauer melancholisch Ausdruck gegeben. In einem spricht er vom „Weltversöhner“, der allem Harm ein Ende bereiten wird (was an Hiob anklingt: „Ich weiß, dass mein Erlöser / Löser / Befreier lebt“), aber im Grunde besingen die Gedichte Todessehnsucht. Sie bringen Götter in die Texte hinein, die mütterliche Sonne, und: „`Und du, dem so viel reiche Gunst / Ein Gott gegönnt, / Die Seele voll Natur und Kunst – !´ – / Die Wunde brennt.“ Auch Kunst und Natur können die Trauer, den Schmerz nicht verhindern. In einer Vision / Ohnmacht sieht er seinen Sohn, er fühlt sich froh – doch dann übertreibt es der verstorbene Sohn, stirbt – und das gefühlte Glück ist wieder vorüber. In einer anderen Vision sieht er die Kinder – wie sie einander fröhlich an die Hände nehmen und sie entschwinden seinen Augen: „am Dachesrande glüht / Der goldne Mond empor und übergießt / Mit Balsam mir die angsterlöste Seele.“ (233)

Heyse bemerkt, dass er alles hatte. Er hat auch alles aus einer dominanten Perspektive gemanagt. Ihm ging es gut – und mit dem Tod seiner beiden Kinder erkannte er seine Grenzen, die er nicht anerkennen wollte bzw. konnte. Ein Mensch, der nur siegt, ein Mensch der Herrschaft, hat es vielleicht noch schwerer mit Niederlagen umzugehen, mit dem, was er nicht beherrschen kann, als andere Menschen. Das macht er Gott zum Vorwurf. Gott ist größer als er – aber er verweigert die Anerkenntnis, dass Gott Gott ist. Somit sucht er andere Wege, mit dem Schmerz umzugehen. Das wird unten noch einmal deutlicher.  

In „Tristien“ (4) beschreibt er, dass er nachts das Vater-Unser betete, aber dann froh war, dass er von dem „Wahn“ entwöhnt war, „Daß väterlich des Lebens Herr mich hegte“ und freute sich, dass er ein Kind des Todes sei. Er betet weiter um das tägliche Brot – aber das Brot „an Sorg´ und Mühe!“, und er bat darum, dass Gott ihn nicht versuche. Er grübelte weiter und „Da schloß ich fromm: Erlös´ uns von dem Übel!“ Christen glauben, so „Tristien“ (5) alles würde sich zum Besten wenden, anders die Pessimisten. Er selbst kennt Beides, das Süßeste und Bitterste: „Im Einzlen hoff´ ich klüger noch zu werden, / Doch übers Ganze bin ich fest entschlossen / Superlavistisch niemals abzusprechen.“ Es ist ironisch gemeint, wie an der Wortwahl erkennbar.

Er lehnt Extreme ab. So konnte er auch gegen den bayerischen König den preußischen König betonen, konnte, weil er in der Jury nicht akzeptieren wollte, dass ein Jude kein Preis bekam, aus der Jury austreten, konnte Bismarck bewundern – aber er machte nicht alles Extreme mit. Letztlich aber war er selbst der Maßstab dafür, was extrem ist, was er akzeptiert und ablehnt. Das reflektiert er in diesem Gedicht, indem er hier das Wort „niemals“ anfügt, also superlavistisch.

Im Wesentlichen spricht er von „ewge Mächte“ oder ähnlich, z.B. „In dunkler Nacht“ (257); dunkle Mächte (263) – dieses Gedicht „Frage“ dürfte eines der Tiefgehenden zum Thema Glauben sein. In diesem stellt er der „Allmacht“ die Frage: „… ruf´ich umsonst dich an? / Mußt du herrschen und schweigen?“ – darf er nur von ferne ahnen, anstatt „himmlische Klarheit“ zu bekommen? Auch das folgende Gedicht „Resignation“ ist spannend – mit Blick auf Anthropodizee, das Leiden am Menschen. Und „Welträtsel“ (264) ahnt, dass es mehr gibt. Es ergreift ihn ein Schmerz, „daß niemals du der Lösung näher bist / Der alten Frage: was das ist, was ist, / Und vor des Daseins rätselvollem Schmerz / Krampft sich zusammen dein verschüchtert Herz.“

In „Der Tod im Baum“ wird dem Tod ein Weihnachtslied gesungen und das besiegt ihn (268f.). In den „Waldmonologen aus Kreuth“ – geschrieben vermutlich, wie die Gedichte erkennen lassen, als er wegen Herzproblemen in Kur war, beschreibt er im 7. Sonett seinen Glauben (275): „Früh lernt´ich, ob mit Schmerz auch, mich bescheiden, / Daß kein beschränkter Geist erfassen mag / Unendliches, und weder dreist noch zag / Gab ich mich drein, mein dunkles Los zu leiden.“ Er musste auf die Freuden der Frommen verzichten, „Unfromm und trostlos war ich darum mitnichten. // Birgt doch ein Ew´ges jede Spanne Zeit, / Wo Wahres wir erkennen, Schönes dichten, / Und wer da liebt, der fühlt Unendlichkeit.“   

Kritisch geht er mit der kirchlichen Tradition um. In „Der Dichter und der große Pan“ wird durch den alten griechischen Gott Pan der Sonntag samt Gottesdienst kritisiert… Gott wird in der Natur gefunden. In Waldmonologe aus Kreuth werden Geistliche angesprochen: „… / Nicht jene mehr sich liegen in den Haaren, / Die Liebe predigen von Amtes wegen /…“ (273:2) Heftige Abwertung des Papstes wird in „An Otto Ribbeck in Leipzig“ (473) geäußert bzw.: „Geschöpfe, die dem Weltengeist entsprangen, / Sind ewig nicht wie er.“ /274:5)

In dem Gedicht „San Martino“ (Bilder aus Neapel XIX) beschreibt er Mönche eines Klosters, die ein Schweigegelübde abgelegt haben und viel Schätze sammelten, aber meinten, dass „nur Gottes Wort der Mühe lohnt.“ Sie werden aus dem Kloster vertrieben. Dann heißt es am Schluss: „Doch wenn ihr wollt, ist alles euch geblieben; / Denn wer da weiß zu schauen und zu schweigen, / Bleibt auch entthront, ein Fürst der Welt hinieden.“ Ironisch gemeint? Und in seinem Rom-Gedicht (Kunst und Künstler IX) beschreibt er eine Brücke, die nach Rom führt, mit den Skulpuren von Johannes dem Täufer und Jesus, die die Besucher zum Nachdenken bringen sollen – aber Heiden und Juden kommen mit der Bahn, umgehen somit diese Skulpturen. Kunst ist auch das Thema in „Nur ein Laie“. Einer kann dem Bild von Raffael „Sixtinischen Madonna“ nichts Göttliches abgewinnen. Diesem antwortet er: „Und wenn ein kühner Geist, wie Sie, / Dem Gott gesunde Sinne lieh, An Raffael nichts finden kann, / So sag er´s dreist. Selbst ist der Mann, / Auch wenn er fremd Gebiet durchstreift. / Man gleicht dem Geist, den man begreift, / Und lehrreich ist´s, wenn man von Laien / Erfährt, wes Geistes Kind sie seien.“

Raffael spielt auch in einem anderen Gedicht eine besondere Rolle, in dem er wieder auf seine Trauer zu sprechen kommt: „Raffaels Jonas“ (Kunst und Künstler XX). Dort betrachtet das (lyrische) Ich das Jonas-Bild Raffaels in einer Kirche. Jonas, als Kind, wurde nach drei Tagen aus dem FischGrab befreit – und der Dichter denkt an sein eigenes gestorbenes Kind, „Doch ihn zog kein gnädiger Gott aus der Tiefe zurück“ und „durch täuschende Schleier der Wehmut“ meint er, in dem abgebildeten Jonas sein eigenes Kind zu entdecken, das ihn ruft: „O rette mich, Vater!“. Der Küster rührt ihn an, damit er gehe. Und er schließt das Gedicht: „Ich wende mich ab, und erschüttert / Wank´ ich hinaus an den Tag, als hätte ich selber der Abgrund / Ausgespien und ich trät´ ein Gespenst in das sonnige Dasein.“ Ist damit auch gemeint, dass es gut ist, dass der Sohn im Tode bleibt? Weil er sonst eben auch als Gespenst ins Dasein träte? Wie dem auch sei, dieses traumatische Erlebnis des Sterbens seiner Kinder bestimmt so manches Gedicht – und ich vermute, wie oben dargelegt, auch den Glauben insgesamt, denn er sucht sich andere Wege mit dem Unerklärlichen klar zu kommen als dem Weg des christlichen Glaubens.

Spannend in diesem Zusammenhang ist das Gedicht „Ermutigung“ – denn er spricht davon, dass ein Dämon / dunkle Mächte das Leben führen und gibt den Rat „Werd´ an dir selbst nicht irre, mein Herz!“ Der Dämon ist der innere Genius, zu verbinden mit den Musen, die auch immer wieder in Gedichten vorkommen, die dunklen Mächte sind die unergründlichen schöpferischen Kräfte. Wir haben hier ein Echo auf Goethes Faust / den Daimon des Sokrates. Das finde ich insofern interessant, als an dieser Stelle christliche Metaphorik ins Gegenteil umgedreht wird. Nicht Gott hat die Führung im Leben, sondern diese Kräfte haben sie. (Vgl. Ghaselen.)

Ich sprach schon die „Waldmonologe aus Kreuth“ an – hier sei ein anderer Aspekt betont:  Zeitkritik. Der Prolog ist mit Blick auf den Dichterkult spannend (272): „Was Dichter sich erlaubt von Gottes Gnaden, / Wird von den Jüngsten als vieux jeu verhöhnt.“ – als nicht mehr zeitgemäß, veraltet verhöhnt. Sieht er sich selbst als einen solchen? Denn er wurde heftig von der jungen Generation angegriffen – oder sieht er sich als jungen Dichter, der die Dichter vor ihm angreift? In den Ghaselen lässt er sein Leben mit 70 Jahren vorbeiziehen, bemerkt die Veränderungen auch in der Literatur. Kurz gesagt: Wenn sich alles verändert „was kann ich dafür?“ Es klingt pessimistisch (16): „Und weiß ich doch, stets auf Erden werde Macht vor Recht ergehn, / Ob ein Gott auch eigenhändig strenge Strafgesetze schrieb. / Immer wird die Kraft bewundert, / sei sie noch so frevelhaft“ – das ist ein Naturgesetz, gegen das er sich immer auflehnen wird, auch wenn es wahnhaft klingt – diesen jugendlichen Wahn behält er sich. Und der beinhaltet auch: „Die Welt will ja betrogen sein“ – und im Folgenden polemisiert er gegen den Glauben (17).

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Ein paar Aspekte seien im folgenden noch angesprochen:

In „Sorrent“ spricht er im ersten Gedicht „Rückkehr zur Natur“ von der Mutterbrust der Natur, von ihrer Liebeskraft, der heilende Kraft, deren Segen, deren Vergeben. Im Prolog zu „Landschaften mit Staffage“ spricht er die Natur als Mutter an, sie wird sehr menschlich dargestellt – zudem küsst er ihres Kleides Saum (vgl. „Die Schlucht“).

In dieser zuerst genannten Sammlung spricht er auch von einem 15jährigen Mädchen, das singt, dass sie, wenn sie im Paradies auferstehen wird, sofort ihren Liebsten suchen wird. Wenn sie ihn im Paradies nicht findet, legt sie sich wieder schlafen („In der Bucht“). Diese ironische Haltung ist häufiger zu finden, so in „Bittgang“. Es bittet ein Bauer angesichts der Dürre einen Pfarrer, einen Bittgang um Regen abzuhalten. Aber der Pfarrer meinte: warten wir noch ein bisschen, das Barometer ist noch zu hoch. Viele kritische Beobachtungen zu Christen finden wir in den „Römischen Sonetten“, so, dass Erinnerung an den Stall „in dem das Heil der Welt lag“ im Vatikan nicht willkommen sei. Und an Eichendorff kritisiert er, dass er „Krieg den Philistern“ schrieb, aber selbst dem Vatikan nahestand. Anette von Droste-Hülshoff sieht er positiver: „Allein an Gott dich klammernd und Natur, / Zu Perlen reiften dir all deine Thränen; / So wardst du Deutschlands größte Dichterin.“ Als Spruch ist von ihm überliefert (616): „Je mehr du in die Tiefe dringst, / Je mehr wirst du der Welt entscheiden, / Und wenn du in den Mittelpunkt versinkst, / Kann Gott allein dich wiederfinden.“ In einem anderen Spruch wendet er sich Glauben zu, aber ab von Konfessionen (616).

Religiös spricht er: „Ach, nur ein Blick ins Ew´ge weiht / Die ganze arme Menschlichkeit!“ – meint damit aber den Himmel mit seinen Sternen. („Aus dem Mansardenfenster“) Diese Anmerkung ist insofern spannend, als wenige Jahrzehnte vorher noch von einem Dichter gesagt werden konnte, dass er beim Hinaufschauen in den Abendhimmel an Gott denkt – „Hinauf mein Herz, hinauf zu´n Sternen! / Mein Jesu, du bist meine Lust“ (z.B. Martin Günther; Pressel 842). In „Bilder aus Neapel“  XIV meint er, dass begrabene Christen das Nichts unter dem Gras geben würden, wenn sie nur den Himmel sehen könnten. Andererseits spricht er in „Sophie, Großherzogin von Sachsen“: „Und in den Stunden, wo die Seele rein, / Zum Ew´gen sich erhebt, gedenke mein!“ In weiteren Gedichten spricht er in dem Kontext des Todes von Sternen bzw. In „Wilhelm Herz †“ von „Der reiche Geist ist zurückgekehrt ins All“ – aber ruhend am dunklen Ort.

In diesen Bildern XVI wird auch beschrieben, dass die Menschen aus Neapel sich um ihre Sünden nicht scheren. Sie tun sie einfach, weil sie glauben, Gott würde sie in dem Menschengewimmel nicht sehen. Wenn es um Tier- und „Nächstenliebe“ geht, denkt er auch an Christus: Ein Kutscher peitscht sein armes Pferd. Dann wird gesagt, dass Christus als der Richter das Pferd in den Himmel aufnehmen wird, nicht den brutalen Kutscher. (In „Jagdvergnügen“ geht er gegen Vogeljäger an, in „Das Hundegrab auf Oxia“ – gegen Christen, die das Liebesgebot kennen, aber die Menschlichkeit nicht üben.)

Am Rande sei erwähnt, dass Heyse eine Menge italienischer Städte in Gedichten beschreibt, besingt. Ich vermute, dass er damit im 19. Jahrhundert die Sehnsucht vieler Deutscher ansprach, die nie nach Italien reisen konnten. Was heute das Fernsehen bietet, vom Sofa aus die Welt zu betrachten, bietet er für seine Zeit mit Gedichten.

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Was mir auffällt – mit Blick auf Hiob (der alttestamentlichen Schrift): Hiob knallt Gott aufgrund seines massiven Leidens – verständlich – alles Mögliche gegen den Kopf. Zwischendrin in seinen Klagen und Anklagen gibt es immer wieder leichte Ahnungen, dass Gott ganz anders ist, als er es sich in seinem Schmerz ausdenkt. Solche Ahnungen finden wir manchmal auch bei Heyse, der auch großen Schmerz erlebte. Aber in dem, was ich bislang an den Gedichten wahrgenommen habe, bleibt er im Irdischen stecken, klassisch, humanistisch, säkular.   

Was ich mit Blick auf unsere heutige Zeit spannend finden: was wir auf TikTok oder Instagramm erleben, dass Menschen ihre Trauer, ihre Freude, ihre Weltsicht einfach so anderen mitteilen, das finden wir hier in Form von Gedichten. Zum Teil mag ich nicht vom lyrischen Ich sprechen, weil es der Autor selbst ist, der zum Beispiel seine Trauer mitteilt, seine Versuche, mit der Trauer umzugehen. Warum veröffentlicht er das? Hier kommt aus meiner Sicht der säkulare Ansatz zum Vorschein: Er möchte zeigen, dass man auch als Nichtchrist die Trauer bewältigt, mit dem Schmerz leben kann und möchte. Wie christliche Texte – oder vor allem auch die jüdischen Psalmen – helfen wollen, vor Gott und Menschen die eigene Situation mit Sprache zu verstehen, zu bewältigen, so finden wir das bei Heyse aus säkularer Perspektive.

Aus diesem Grund habe ich ihn in diese meine Sammlung aufgenommen. Mit Blick auf Gott bietet er keine neuen Erkenntnisse. Im Gegenteil. Er bleibt im Innerweltlichen stecken, hat keine Perspektive aus dem Weltlichen hinaus. Hier und da wird die Sehnsucht danach, ausbrechen zu können deutlich, aber er sinkt dann immer wieder zurück. Er ist so in gewisser Weise ein Beispiel für den modernen Menschen. Christliche Lieder und Gedichte gelten der Gemeinschaft der Gemeinde. Die Gedichte Heyses und anderer Dichter gelten den Einzelnen, die das Gedicht lesen, die neugierig sind auf den Dichter Heyse – auf seine Bewunderer als Dichterpapst.