Jean Racine (1639-1699)
Racine verlor als Kind seine Eltern, seine Großeltern wurden Bezugspersonen, bis der Großvater starb und die Großmutter sich zurückzog. Er wuchs danach in einem jansenistischen Internat auf. Das jansenistische Internat wurde bekämpft und geschlossen, so ging er in ein solches in Paris. Der Jansenismus war eine Erneuerungsbewegung im Katholizismus und betonte die Gnade Gottes in einer rigorosen Form. Damit verbunden war eine tiefe Spiritualität und einfache Lebensführung. Bekämpft wurde die Bewegung vom König und dem von ihm unter Druck gesetzten Papst. In Paris machte er Bekanntschaft mit kulturellen Kreisen und entfremdete sich seiner religiösen Tradition – bzw. emanzipierte sich von ihr. Er schrieb Tragödien. Er arbeitete mit Moliere zusammen, sie trennten sich jedoch, weil er sich einer anderen Schauspielergruppe zuwandte und eine Schauspielerinnen als Geliebte mitnahm. Als er am Hofe Achtung fand, wandte er sich gegen seine jansenitische Tradition.
Nach einen Ausflug in die Welt der Bühnen, die er 10 Jahre mit großem Erfolg betreten hatte, zog er sich zurück und war Chronist der zahlreichen Kriegszüge des Königs, Ludwig XIV., und war Vorleser, wurde in den Adelsstand erhoben. Er heiratete ca. 10 Jahre nach dem Tod seiner Geliebten und kehrte wieder zu den Jansenisten zurück – was dem König nicht besonders gefiel. Nun schuf er wunderschöne geistliche Texte. Einmal in Anlehnung an die christliche Tradition der täglichen Gebete, dann aber, nachdem er darum gebeten wurde, schrieb er für eine Mädchenschule die Tragödien aus christlichem Geist Esther und Athalie. Für die Mädchenschule schrieb er auch wenige Jahre vor seinem Tod vier Geistliche Gesänge: (1) Lobpreis der Liebe (ausgehend vom ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther 13), (2) Das Glück der Gerechten und das Unglück der Verworfenen (ausgehend von Weisheit 5), (3) Klage eines Christen über die Widersprüche in seinem Leben (ausgehend von Römer 7), (4) Die eitlen Beschäftigungen der Weltleute. Alle vier wurden wie die beiden Tragödien vertont.
Zu (1) Er schließt den Lobpreis: Wann kann ich dir anbieten, höchste Liebe, im Licht das Lied meiner Seufzer? Immer brennend für deinen Ruhm, immer trinkend aus der Quelle wahrer Freuden? Willige übersetzt: „Wann wird es mir, hehre Liebe, gelingen / Im Schoße des Lichts dir zu singen / Das Lied meiner sehnenden Brust, / Dir entbrennend ins Knie dann zu sinken, / Um immer zu schöpfen, zu trinken / Vom Borne der wahrhaften Lust?“
(Zu 2) Ich möchte mit Blick auf Baudelaire, Verlaine und Rimbaud, die ca. 200 Jahre nach ihm lebten und dichteten, die zweite Strophe zitieren: „Wie tief in Schmerzen versunken / Werden einst jene Törichten sein, / O Herr, die ihr Leben jetzt trunken / Der Welt und der Eitelkeit weihn, / Wenn sich zeigt, daß die Lust, die sie hatten, / Nichts war als ein nichtiger Schatten, / Der geht und für immer versinkt…“. Und mit Blick auf Racine selbst die 5. Strophe: „Von unseren unrechten Taten / Was blieb uns als Frucht zuletzt? / Wohin sind die Titel geraten, / Die der Hochmut zum Ziel sich gesetzt? / Wer leibt uns? Wer führt unsere Sache?“ Gott.
Zu (3) Das ist auch Kennzeichen seiner Tragödien: die Spannungen in den Menschen zu zeichnen. Das Gedicht beginnt: „Mein Gott, welch ein grausames streiten! / Ich sehe zwei Menschen in mir. / Der will, daß in Liebe zu dir / Mein Herz bleibe treu dir zurseiten, / Und jener will es verleiten / Zum Trotz und zu eitler Begier.“ Das treue Herz im Streit mit dem Rebellen gegen Gott. Gott wird gebeten, in seiner Gnade den Kampf zu beenden. Anders als Paulus: Er sieht den Kampf durch Jesus Christus beendet!
Ich werde zu den jeweiligen Gebeten kaum etwas sagen, da sie traditionellen Glauben in seine Gegenwart übertragen. Schön ist zum Beispiel die Formulierung im Morgenlob: „Nun leuchtet von Osten der Morgen. / So durchleuchte das Licht uns, das Jesus bewirkt, / Ja, Jesus, im göttlichen Vater geborgen, / Wie in ihm sein göttlicher Vater sich birgt.“ Die traditionelle Aussage, die die Gebete schließt: von Ewigkeit zu Ewigkeit – ersetzt er zum Beispiel durch: „Der den Wandel der Zeit wirkt tausendgestaltig / Und wandellos ruht.“ (Qui fais changer des temps l´inconstante durée, / Et ne changes jamais.“ Häufig wird eine Beobachtung aus der Natur als Ausgangspunkt für eine Glaubensaussage genommen: „Des wachsamen Vogels Kehle / Erweckt uns; verjagt wohl ihr Singen die Nacht. / So läßt Jesus sich hören der schlummernden Seele / Und ruft sie zum Leben, das Er uns gebracht.“ Zur Mette am Mittwoch lässt er die Glaubenden beten und singen – wie Paulus und die Propheten zu singen lehrten. Hier werden die Jahrhunderte christlichen Glaubens durch Lied und Gebet umrahmt: es begann mit dem Lied der Propheten und des Apostels – es endet nun für die Glaubenden in ihrer Zeit in ihrem Lied und Gebet. So könnte ich Text für Text durchgehen, überall sind Perlen verborgen.
Die Mette am Dienstag hat Fauré vertont:
Textgrundlage: Jean Racine: Hymnen und geistliche Gesänge. Übersetzer: Wilhelm Willige (?), Französisch/Deutsch, Karl Rauch Verlag Jena 1948.