Boris Pasternak (1890-1960)

Pasternak wurde in einem jüdischen Elternhaus geboren, allerdings waren die Eltern religiös eher zurückhaltend. Der Vater war bekannter Maler, die Mutter war bekannte Pianistin.  Und so durften sie in Moskau bleiben, trotz der Ausweisung von Juden. 1921 reisten die Eltern mit zwei Töchtern nach Berlin, Pasternak blieb mit einem Bruder in Moskau. Die Familie durfte nicht wieder zurück – und somit sahen die Söhne die Eltern und Schwestern nie wieder in Russland, hatten aber intensiven brieflichen Kontakt.

Pasternak soll als Kind heimlich von seiner Kinderfrau getauft worden sein – was andere allerdings als „lyrische Wahrheit“ einordnen, die er 1959 in einem Brief der Bekannten Jacqueline de Proyart (02.05.1959) mitgeteilt hatte (Iwinskaja 165). Auf jeden Fall zeigt das, dass es Pasternak wichtig war, auch wenn die Taufe, wie auch immer geschehen, nicht anerkannt sein sollte. Dennoch spielte der christliche Glaube in seinem Leben zunächst keine eindeutige Rolle – und in seinen Gedichten auch nicht. Es sei denn, dass er auch Glaubensaspekte metaphorisch beschrieben hat. So wie – aus meiner Sicht – in dem genialen Gedicht: Gewitter. Es beschreibt ein heraufziehendes Gewitter, der Blitz schlägt in das Gebäude ein, und die Flammen züngeln im Innern – des Verstandes (Etkind 359; Fischer Bd 1 123: Ein Gewitter, momentan auf ewig). Das Gedicht wurde 1917 geschrieben – also im Jahr der Oktoberrevolution.

1922 erschien von ihm in der revolutionären Zeit der Gewalt und des Niedergangs, der Zeit des Überlebens der Gedichtband: „Meine Schwester, das Leben“. Dieser fand große Zustimmung. Er wandte sich erst in den 30er-40er dem christlichen Glauben intensiver zu. Der Gedichtzyklus „Die zweite Geburt“ (1932) zeigt eine neue, eine straffere Form der Gedichte – und der Titel verwendet christliche Terminologie (Neugeburt durch den Glauben) – hat aber wohl eher biographische Bedeutung unabhängig vom Glauben. 1931 trennte er sich von seiner Frau und seinem Sohn wegen einer neuen Liebe – auch aufgrund der Schuldgefühle beging er einen Suizid-Versuch. Das heißt, zu Beginn der 30er nahm sein Leben insgesamt eine Wendung. Wie sehr die kommunistisch-stalinistische Tyrannei dazu zwang, doppeldeutig zu sprechen – und damit auch zu leben, das zeigt sein Brief an die Eltern vom 24.11.1936 („Brücke aus Papier“ 366ff.).

Zunächst begrüßte Pasternak die Revolution. Er änderte langsam seine Meinung – vor allem auch aufgrund der Erfahrung massiver Armut ländlicher Bevölkerung. Die alte menschliche Tradition begann nach der Euphorie langsam wieder die Oberhand über die revolutionäre Ideologie zu gewinnen. Das sozialistische System war sich seiner nicht mehr so ganz sicher. Es gab Zeiten, in denen die Revolution nicht nur verbal begrüßt werden musste, sondern es wurde von Schriftstellern das eindeutige Bekenntnis zum Kommunismus verlangt – und damit wurde eben auch eine Begeisterung für die ideologische Sache gefordert. Pasternak versuchte mitzumachen, versuchte den Sinn der neuen revolutionären Zeit zu verstehen. Doch gelang es ihm nicht immer. Und wer bei all diesem brutalen ideologischen Schnickschnack nicht mitmachte, war je nach augenblicklicher politischer Lage unten durch: Schriftsteller, Journalisten, Politiker, Glaubende, unbekannte Menschen in ihrem Alltag… – Hetzer aus Angst gab es viele. Vor allem wurde Pasternak vorgeworfen, für das Proletariat, also für die Moderne nutzlos zu sein. Pasternak war zunächst ein naiver Poet der Natur und der Liebe, der seiner widerspenstigen Meinung manchmal deutlich und mutig zum Ausdruck gab: Der Künstler wird zwar politisch hin und her gewirbelt, aber letztlich steht er über den politischen Eintagsfliegen. Er lässt sich nicht in ein ideologisches Haus stecken, sondern ist „Gast in allen Welten“ (Aucouturier 92). Manchmal kommt er der Partei gelegen, so wird er 1935 auf einen Schriftstellerkongress nach Paris entsendet. Er wollte nicht fahren, fuhr aber aufgrund des Drucks aus unterschiedlichen Richtungen und wurde begeistert begrüßt. Aber er ließ sich nicht „bestechen“, im Gegenteil: das ganze machte ihn noch depressiver.

Die Motivation für seine Gedichte stellt er zumindest in Neue Geburt so vor: „Ich hänge an der Feder des Schöpfers, / Ein Tropfen violettlila Lichts“ – und es endet: „Ich hafte an der Feder des Schöpfers“ (9. Der kurzweilige Garten: Traum einer Sommernacht; 1922) – der Dichter als Medium des Schöpfers, also Gottes. Seine Gedichte wurden von Liebhabern gelesen und auswendig gelernt. Die Naturgedichte waren nicht allein Naturgedichte, die beschriebene Natur stand für sein Lebensgefühl, sie wurde metaphorisch eng mit Liebe, Menschen, Beobachtungen in seiner Zeit, aber auch mit der Politik verwoben. Er war nicht weiter gefährlich, ein Träumer, war politisch kaum engagiert. Dennoch bzw. darum geriet er unter Anpassungsdruck. So gibt es widersprüchliche Aussagen darüber, ob er mit anderen die Forderung nach einem Todesurteil für kommunistische „Verräter“ unterschrieben hat oder nicht. Es wird auch gesagt, dass er sie nicht unterschrieben hat, aber dass sein Name unter der Forderung abgedruckt worden sei. Nachdem er sich darüber beschwert habe, sei er angeschrien worden mit der Frage, ob er den Untergang der Schriftstellerkollegen wolle. Orlowa meint, dass er nach dieser Situation nicht mehr aufgefordert worden sei, solche Forderungen zu unterschreiben. Er selbst war aber anerkannt genug, sodass es zunächst weiter keine negativen Folgen gehabt hat – denn sogar der Georgier Stalin soll an ihm Gefallen gefunden haben, denn Pasternak hatte Werke aus Georgien ins Russische übersetzt. Laut dem russischen Wikipedia (Pasternak) hat er sich für Achmatovas Sohn bei Stalin eingesetzt, er wurde freigelassen und als Dank hat er Stalin seine Übertragung georgischer Gedichte geschickt.) Aber was ihn letztlich vor der stalinistischen Verfolgung rettete, ist unbekannt. Pasternak rechnete selbst mit Verfolgung, denn er hatte sich für Inhaftierte eingesetzt und hat auch anderweitig Inhaftierten geholfen, mit Briefen, Buchsendungen, deren Familien mit Geld. Iwinskaja schreibt: „Ich glaube, Stalin und Pasternak fochten ein stummes Duell aus.“ Pasternak widersprach nicht den Parolen, er widersprach auch nicht Stalin – er widersprach dem erbärmlichen Stalinismus in seiner Grundlage (163). Veröffentlichen durfte er seine Gedichte nicht mehr und arbeitete an Übersetzungen.

In den 40ern kam es zu antisemitischen Vorfällen – den Juden wurde Kosmopolitismus vorgeworfen. Das heißt konkret: Ihm wurde vorgeworfen, für die Engländer zu spionieren. In diesem Zusammenhang wurde auch eine wichtige Freundin und Mitarbeiterin Pasternaks, Olga Ivinskaja (1912-1995; Dr. Schiwagos „Lara“) zu 5 Jahren Gefängnis und Arbeitslager verurteilt (und war von 1950-1953 inhaftiert, dann wieder 1960-1964), weil sie zu Pasternak Verbindungen hatte und ihn als Teil einer zionistischen bzw. mit dem Ausland kooperierende Verschwörung beschuldigen sollte (- so wurde auch Achmatowas Sohn inhaftiert, weil man sich nicht an seine Mutter herantraute). Hunderte jüdischer Schriftsteller wurden in dieser Zeit verhaftet und verbannt. 1953 wurden viele rehabilitiert, waren aber in den Lagern und der Haft gestorben. Die Namen der Opfer durften nicht mehr genannt werden.

Der christliche Glaube floss intensiv in die Gedichte seines einzigen Romans, Dr. Schiwago, ein (der Name Juri Andrejewitsch ist hergeleitet von den Heiligen Georg und Andreas, der das Christentum nach Russland gebracht haben soll: https://de.wikipedia.org/wiki/Doktor_Schiwago_(Roman). Schiwago soll von „lebendig“ abgeleitet worden sein). Sie werden als Gedichte bezeichnet, die Schiwago in seiner Jugend gedichtet hat. Dieser Roman, der in der Sowjetunion nicht veröffentlicht werden durfte, schlug in der Sowjetunion wie eine Bombe ein, denn er wurde in Italien veröffentlicht – und die Apparatschiks der Sowjetunion und all ihre Steigbügelhalter schrieben sich gegen den Autor die Finger wund – ohne den Roman gelesen zu haben.

Der Roman, an dem Pasternak von 1949-1953 gearbeitet hat (Vorarbeiten gibt es aber schon früher; andere Info: 1945-1955) und der 1957 in Italien erschien, war Zeugnis dafür, dass es sie noch gibt, die freien Schriftsteller unter kommunistischer Sowjetherrschaft. Sie sind nicht alle eingeknickt. Und so wurde der Roman zu einem Spielball des West-Ost-Konfliktes. Der CIA verwendete ihn, um Russen, die ins Ausland gekommen waren, damit zu beglücken. Der Nobelpreis wurde ihm (für sein Gesamtwerk) verliehen; für einen sehr zu Herzen gehenden Film – 1965 – wurde das Buch die Vorlage. Und in der Sowjetunion wurde Pasternak noch stärker zur persona non grata. Sehr viele Offizielle fielen über ihn her, distanzierten sich von ihm, versuchten sich in den Diffamierungen gegenseitig zu übertrumpfen (dargelegt in den Erinnerungen von Iwinskaja). Und so konnte er sein Leben kaum mehr finanzieren. Seine Ausweisung wurde gefordert – aber er bat Chruschtschow (seit 1953 „1. Sekretär des Zentralkomitees“ bis 1964), der nach Stalins Tod (1953) das Land regierte, bleiben zu dürfen. Er durfte bleiben und starb 1960. (Dass er Chruschtschow bat, bleiben zu dürfen, wurde von Solschenizyn massiv kritisiert – und Olga Iwinskaja nahm die Schuld auf sich, sie habe Pasternak dazu gedrängt.)

Seine christliche Überzeugung wurde dann vor allem mit dem Roman deutlich, denn im Zusammenhang des Romans wurden fünfundzwanzig Gedichte veröffentlicht: Die Gedichte des Jurij Schiwago. Sie tragen autobiographische Züge. Zehn nicht religiöse Gedichte, Gedichte, die nicht dem biblischen Zyklus angehören, konnte er vorher veröffentlichen. Die Gedichte sah er als Vorstufen zum Roman an (Iwinskaja 228ff.). Sie fassen gemeinsam den Roman zusammen. Die religiösen wie die nichtreligiösen Gedichte gehören zusammen – sie weisen in die Zukunft, um in Anlehnung an die letzten Zeilen des Romans Doktor Schiwago zu formulieren: den alten Freunden, die nach dem Tod von Schiwago zusammengekommen waren, scheint es, sie hätten die innere Freiheit erlangt, damit seien sie in die vom Buch verheißene Zukunft eingetreten. Die Gedichte – „im Geiste des Evangeliums“ (Orlowa) – fassen Lebenserinnerungen zusammen und weisen in die Zukunft. Damit wird auch deutlich, was Gedichte seiner letzten Lebensphase für Pasternak sind: konzentrierte Lebenserinnerungen, die gleichzeitig in die Zukunft weisen. Das wird unten an den Gedichten noch deutlich werden. Das wird aber auch sehr intensiv in dem Gedicht „Nach dem Gewitter“ (1958) ausgesprochen, das nicht zu den Schiwago-Gedichten gehört – aber auf die Veröffentlichung des Schiwago-Romans zurückblickt. So schreibt er, dass die Hand des Künstlers alles reinwäscht, das Sein umgestaltet. In diesem Gedicht erinnert er sich an die vergangenen 50 Jahre, sieht, dass die Zukunft einen eigenen Verlauf haben wird und erkennt, dass Gewalt nie dem neuen Leben den Weg geebnet hat: „Nein – Offenbarung nur und Glut und Segen / Der Menschenseele sind dazu imstand.“ (Fischer) Mit „Offenbarung“ und „Segen“ hat er eminent christliche Worte verwendet.

Ein Vorwurf an Pasternak lautete nach der Veröffentlichung seines Werkes: „Und ich fühle mich wie angespuckt. Da gibt es eine Unmenge von religiösem Nonsense.“ (Iwinskaja 293; im Jahr 1956 hat V. Dudinzew ein Buch veröffentlicht, das im Titel in Aufnahme eines Wortes Jesu auch Kritik am herrschenden kommunistischen Materialismus zeigt: „Nicht vom Brot allein“ und hat die Verbesserung des sowjetischen Systems im Blick.) In der Biographie von Aucouturier über Pasternak heißt es, dass von diesen Gedichten mit Evangeliums-Themen Abschriften zirkulierten, was die heftige Reaktion der kommunistischen Gegner und ideologischen Mitläufer erklären könnte (140), da der Kommunismus den christlichen Glauben fürchtete und bekämpfte. Nun tauchte der von Kommunisten totgeschlagene Glaube wieder in den Gedichten auf. Der biblische Zyklus soll als Protest gegen Stalin gedichtet worden sein. Zu dem unten genannten Weihnachtsgedicht heißt es: „Die offiziöse Kritik begegnete dem biblischen Zyklus – dem Höhepunkt der Schiwago-Gedichte – mit offenem Haß: Ach was, Christus; ach was, Magdalena – spuck drauf, es gibt keinen Gott!“ (Iwinskaja 162f.)

Christliche Gedichte begegnen häufiger in seinem Gedichtband: Wenn es aufklart (1959). Diese Gedichte entstanden in der Nach-Stalin-Zeit, in der zunächst Freiheit ein wenig greifbarer war.

In einem Gedicht beschrieb Pasternak evtl., wie er zum christlichen Glauben kam: „In meinem Leben warst du alles. / Dann kamen Krieg und Untergang, / Und lange, lange keine Nachricht, / Die die Trennung überwand. // Jetzt, nach ungezählten Jahren, / Reizt mich aufs neue deine Stimme. / Die ganze Nacht bei deinen Worten,* / Erwachten wieder meine Sinne.“ (19. Gedicht: „Morgendämmerung“ [Keil]; * Ü: Fischer: „Ich las spät nachts dein Testament“). Ist es auch christlich zu interpretieren? Wer ist das „Du“? Das Gedicht 18, Weihnachtsstern (s.u.), geht voran und das Gedicht 20, Das Wunder (s.u.), folgt; das heißt, es könnte auch religiös interpretiert werden, denn es wird umrahmt von christlichen Gedichten. Unabhängig vom Roman könnte es so verstanden werden. Einen Bezug zu dem Roman kann ich nicht direkt erkennen – oder steht der 13. Teil im Hintergrund, in dem geschildert wird, dass er Laras Notizen an ihn findet? Wenn dem so sein sollte: Pasternak/Schiwago denkt im Roman über seine Gedichte nach. Und so heißt es, dass sich die Gedichte durch Bearbeitungen immer mehr von ihrem Urbild entfernen – „er liebte in den Gedichten dieses veredelnde Gepräge“ (Schiwago 565f.). Was für eine religiöse Interpretation spricht: Die folgenden Gedichte enden mit einem Hinweis auf die Auferstehung, so hat auch dieses Gedicht „Morgendämmerung“ / „Tagesanbruch“ den künftigen „Sieg“ durch Niederlage im Blick. Wenn jedoch mit Blick auf den Roman ein Mensch gemeint sein sollte, verschwimmt diese Erfahrung mit Menschen und Erfahrung mit Gott. Ähnliches finden wir auch in dem Gedicht „Der Nobelpreis“ (1959). In der letzten Strophe (laut Übersetzung von Fischer) schreibt Pasternak, nachdem er darüber geklagt hat, wie die Menschen mit ihm umgegangen sind: „Jetzt, beinah im Grabe liegend, / Glaub ich an die neue Zeit: / Über finstre Mächte siegen / Wird der Geist der Menschlichkeit.“ (andere Ü: Etkind/Keil 382: Geist des Guten – das hat aber keine Auswirkung auf die Interpretation. Wegen dieses Gedichts, das im Westen veröffentlicht worden war, wurde Pasternak 1959 wegen „Verrates am Vaterland“ beschuldigt.) Aus christlicher Perspektive gesprochen: Menschen haben Jesus Christus hingerichtet, in das Grab getan, die Todesmacht wurde jedoch durch Gott besiegt, der dem Menschen Auferstehung schenkte – nicht nur im kommenden Leben, sondern auch schon in diesem Leben. Das ist Menschlichkeit. Diesem Gedicht folgt eines, das mit „Gottes Welt“ (1959) überschrieben ist. In diesem freut er sich über die Briefe, die ihn aus aller Welt – eben aus Gottes Welt – nach der Verleihung des Nobelpreises erreicht haben. Die Menschen sind menschlich – sie halten sich nicht an Grenzen, die der Staat errichtet, auf, verbreiten keinen Hass. Und so beschreibt er in dem Gedicht „Die Nacht“ (1956), dass der Dichter sich nicht von Müdigkeit überwinden lassen darf, denn: „Musst Ewiges bezeugen, / Gefangen in der Zeit.“ Wie es für Pasternak erkennbar ist: Er löst Gottesdienst nicht von der Welt. Er verschränkt Welt und Glaube, Natur und Glaube, Mensch und Glaube. Sie sind zusammenzusehen wie Auferstehung in der Zukunft, Auferstehung in der Gegenwart, Auferstehung in der Vergangenheit (vgl. Doktor Schiwago 86 und 112 [3.3 und 15] – auch mit Blick auf Wandlungen im Glauben). Das wird ebenso in dem Gedicht deutlich, das dem Band seinen Namen gegeben hat: „Wenn es aufklart“. Die letzten drei Strophen sind zum Bersten gefüllt mit Glauben. Nicht nur aus Gotteshäusern dringt leises Gemurmel der Betenden, sondern auch aus der Welt sind Stimmen in seinem Zimmer vernehmbar. Er fühlt sich eins: „Natur, Welt, Kosmos, du geheimer, / Den langen Gottesdienst für dich – / In tiefer Ehrfurcht bebend, weinend / Vor reinem Glück – bestehe ich.“ In dieser Hinsicht finde ich die Aussage im Roman aufschlussreich: „Bis heute hat man geglaubt, das Wichtigste im Evangelium wären die sittlichen Sprüche und die in den Geboten festgelegten Regeln, für mich aber ist die Hauptsache, daß Christus in Gleichnissen aus dem täglichen Leben spricht, wenn er die Wahrheit im Licht der Alltäglichkeit erläutert. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß der Umgang zwischen Sterblichen unsterblich ist und das Leben symbolisch, weil voller Bedeutung.«“

Nach seinem Tod 1960 wurden Iwinskaja und ihre Tochter wieder verhaftet und einige Jahre in ein Lager/Gulag gesteckt. Pasternaks Haus wurde 1984 (!), unter der Herrschaft des Generalsekretärs Andropows oder Tschernenkos (A.: 1982-1984; T.: 1984-1985), demoliert, seine Werke, seine Bibliothek wurden hinausgeworfen, das Klavier zertrümmert. Gedichtausgaben, die nicht russisch waren, wurden als „antisowjetische Literatur“ interpretiert, was negative Folgen für die jeweiligen Besitzer hatte. Als Orlowa/Kopelew das schrieben (1986), war die Zeit des kommunistischen Hasses gegen Pasternak in der Sowjetunion noch nicht vorbei. Das änderte sich erst mit Gorbatschow ab 1988. Dennoch wurde noch 2006 sein Grab Opfer von Vandalismus.

Gedicht 1: Hamlet (1946; Ü: Fischer)

Der Schauspieler sieht sich im Grunde auf die Bühne gestoßen – er beobachtet die Zuschauer, wie die Zuschauer ihn. Und die vielen ihn beobachtenden Zuschauer („Tausende von Operngläser sehn„; – im Brief an Olga Freudenberg vom 08.05.1941 schreibt er darüber, dass er das Gefühl hatte, „im Brennpunkt des `ganzen Landes´ zu stehen“ [] ) – also die Staatsmacht-Spitzel und Denunzianten – bringen ihn, den Schauspieler, dazu, mit Jesus zu beten: „Abba, Vater, wenn es möglich wäre – / Lass den Kelch an mir vorübergehn.“ Er will tun, was Gott, der Vater, will – doch es beginnt ein anderes Drama, von dem er gerne befreit werden möchte. Aber er muss einsehen: Sein Ende ist nah. Er deutet dann auch das Wort Jesu am Kreuz an: Ich bin verlassen. Und das andere Drama ist: die kommende Veröffentlichung des Romans Doktor Schiwago, von dem er dachte, dass es ihm – wie so vielen anderen Schriftstellern – den Tod, die Verbannung bringen würde. Das Leiden Jesu – das Gebet Jesu zur Vermeidung des Leidens und der Einwilligung zum Leiden – verschmilzt mit seinem eigenen Leiden. Nicht nur, dass der Dichter und der Schauspieler verschmelzen. Sie werden auch in Jesus eins. Distanzierter formuliert: Die Worte Jesu verhelfen ihm dazu, sein Leiden selbst zu formulieren. In anderen Gedichten formuliert er seine seelische Situation mit Hilfe der Natur. Hier, indem er sich mit Jesus Christus verbindet.

Der letzte Vers ist eher eine allgemeine Lebensweisheit, das sein Leben im stalinistischen Reich zusammenfasst: „Leben ist kein Weg durch freies Feld.“ Und gerade Pasternak liebt die Freiheit, wie es auch in seinen Briefen immer wieder formuliert wird, er liebt die Freiheit – aber sie ist angesichts der katastrophalen kommunistischen Situation im Land nur selten möglich. Der Schauspieler ist gebunden. (In Etkind / Gerhardt 374 lauten die letzten Verse: „Unverrückbar führt der Weg zum Ziel, / Niemand hilft mir, alles ist gelogen, / Und das Leben ist kein Kinderspiel“ – eben auch hier: eine allgemeine Lebensweisheit – wie auch immer übersetzt wird.)

Dieses Gedicht korrespondiert mit dem letzten Gedicht (25) „Gethsemane“ – auch dort wird zitiert: „Lass diesen Kelch vorübergehn“ – hier allerdings ist es Christus, der es ausspricht – aber dann weisen die letzten zwei Strophen auch auf das „Ich“, mit Ausblick auf die Auferstehung, die auch in dem vorangegangenen Gedicht (24) Magdalena II in einem Vers ausgesprochen wird. Es wird deutlich: die christlichen Themen werden vom Leiden dominiert – aber eben mit Ausblick auf die Zukunft: Auferstehung. (Vgl. auch Gedichte 21 und 22: „Das Wunder“ und „Schwere Tage“. Dieses Motiv beendet auch Gedicht 19, wie gesehen: „Morgendämmerung“„Ich bin schwächer als sie alle / Und nur darin liegt mein Sieg.“)

Mit dem Gebet, dass der Kelch vorübergehen möge, wird die Situation aufgegriffen, die im Neuen Testament am Gründonnerstag geschildert wird, also der Moment vor der Festnahme und Hinrichtung Jesu. Auch das Gedicht (3) „In der Karwoche“ (1946) greift die Zeit des Leidens Jesu auf. Verbindet sein Leiden mit dem Leiden der Menschen, mit den Trauernden, mit der leidenden Natur: „Die Wälder sind noch nackt und kahl, / Bezeugen Christi Leiden“. Allerdings ermutigen die letzten Verse mit Blick auf den Frühling und Ostern: „So warte, warte, halte Wacht: / Bezwungen ist die Todesmacht, / Und neu erstrahlt das Leben.“ Diesen positiven Ausblick hat das Hamlet-Gedicht nicht.

Gedicht 14: August (Ü: Fischer)

Das Gedicht „August“/„Verklärung“ hat eine besondere Bedeutung dadurch erfahren, dass es wohl eindrücklich bei seiner Beerdigung vorgetragen wurde. Es beschreibt seine Erwartung – bzw. wie er sagt: seinen Traum (Iwinskaja 69) -, am Tag der Verklärung Christi (06.08.) zu Grabe getragen zu werden – mit leichter Kritik an Sprachvorgaben der Zeit, die Religiöses zu verdrängen suchte, schreibt Pasternak: „Und jemand nannte mit Verehrung, / Was uns der Glaube hinterlassen hat: / Der Tag hieß einst Christi Verklärung.“ (In der Schiwago-Übersetzung wird der 06.08. – der Tag der Verklärung als azur und vergoldet bezeichnet.) Und Pasternak greift weiter das Evangelium auf, in dem davon die Rede ist, dass diese Verklärung auf dem Berg (nicht neutestamentliche, aber spätere christliche Interpretation: Berg Tabor) stattgefunden hat, ein überirdisches Tabor-Licht überstrahlt Christus. Danach ging er hinunter ins Tal. In dem Gedicht wird dieses Leuchten, das vom Tabor herunterkommt mit dem Leuchten des (in Russland romantisierten) Herbstes verbunden, das die Trauernden wahrnehmen. Eben das Herbstlicht – das strahlt und Herzen erwärmt, bevor der Winter kommt. Auch hier also wieder: Christus – Natur – Mensch/Dichter. Der gestorbene Dichter verschmilzt mit dem Taborlicht. Verbunden wird die Erwartung, dass mit seinem Sterben sein Wort wieder Bedeutung bekommt, dass sein Tod seine Schriften/Stimme „prophetenhaft“, Wunder stiftend entfalten wird. Und darum wurde das Gedicht auch auf der Trauerfeier gelesen – weil die Bedeutung seiner Gedichte erneut wahrgenommen wurde. (Nur zur Information: Pasternak starb nicht im August, sondern Ende Mai; im Artikel über Pasternak im russischen Wikipedia heißt es, dass Pasternak am 06.08.1903 vom Pferd gefallen sei, ein etwas steifes Bein bekam und das Ereignis als Geburtsstunde seiner schöpferischen Kräfte ansah.)

Gedicht 18: Stern der Geburt (Ü: Fischer)

Gedichte aus dem Kontext der Karzeit, ein Gedicht von der Verklärung – aber auch ein Weihnachtsgedicht finden wir in dem Zyklus. Das Jesus-Kind liegt in der Krippe und friert, gewärmt vom Ochsen und vom Esel – von allen Tieren. Es werden also Volkstraditionen aufgenommen und nach Russland übertragen. Was an dem Gedicht neu ist: Es werden Mengen von Menschen geschildert, die zur Krippe ziehen, unter ihnen auch Engel, die als solche nicht erkannt werden, aber an ihren Spuren erkennbar sind. Die Weisen, die im Matthäusevangelium genannt werden, ahnen die Bedeutung dieser Begebenheit für Zeit und Zukunft. Aber nicht alle Menschen können das Jesus-Kind sehen, einfach darum, weil es zu viele sind. Und diejenigen, die nicht sehen, die streiten sich und zanken, auch Reiter und Soldaten. In all dem Gewimmel liegt das Kind und strahlt leuchtende Ruhe aus.

Der Stern ist bedeutsam – er zieht durch das ganze Gedicht hindurch. Er ist erst normaler Stern, aber dann verändert er sich. Wird er zum lodernden (roten?) Stern? Zu dem Stern, der im Kommunismus das Zeichen bedeutet, die Menschheit in die klassenlose Gesellschaft zu führen, in die paradiesische Zukunft. Der Stern, der immer heller geworden ist, schiebt dann im Stall einen Sterndeuter zur Seite und schaut wie ein besonderer Gast auf die Jungfrau Maria (mit dem Kind?). (Der [rotes] Feuer speiende Drache in Gedicht 13 [„Märchen“] ist der kommunistische Gegner. Laut Iwinskaja 161 ist das Mädchen, das gerettet werden solle, sie selber, der Reiter, der nach einem Blick zum Himmel / nach einem Gebet gegen den Drachen kämpft ist Pasternak – aber wer ist das Pferd, das den Drachen besiegt und dabei starb? Das Gebet um Sieg über den Drachen wurde letztlich erhört.)

Lese ich in das Weihnachtsgedicht Politisches hinein? Ich denke da an das Gedicht von Alexander Block, Die Zwölf. https://gedichte.wolfgangfenske.de/alexander-blok-block-1880-1921/

Schwingt Hoffnung mit, dass die antichristliche Zeit verschwinden wird? Ja, denn die prophetische Sicht wird sich erfüllen, wie sie erfüllt wurde: In Museen, in Kinderträumen, Gedanken und Wünschen, in brennenden Kerzen, dem leuchtenden Schmuck wird das Ereignis immer präsent sein bzw. wird sichtbar präsent sein. Eindrucksvoll sind seine Überlegungen zu Christi Geburt im Roman Doktor Schiwago 514f. Pasternak legt Gewicht auf das Individuum – die Persönlichkeit – gegen all den Kollektivismus seiner Zeit. Und Urbild der Individualität und damit auch der Freiheit ist, dass die Christen Schwerpunkt auf die Frau legen, die das Jesus-Kind geboren hat. Eigentlich Alltägliches, millionenfach wiederholt. Jedoch: Die eine Frau zählt, das eine Kind, in dem Gott Mensch wurde. Mit Blick auf Magdalena, aber auch hier passend schreibt er: „welche Gleichsetzung von Gott und Leben, Gott und Persönlichkeit, Gott und Frau!“

Gedicht 20: Das Wunder

Es geht in dem Gedicht um das Strafwunder, das Jesus am Feigenbaum vollzieht, weil er keine Frucht getragen hat. Der Baum konnte keine Früchte tragen, weil er zu keiner Zeit frei war, er konnte nicht seiner Natur folgen. Jesus verflucht ihn – er wird zu Asche. Die letzten Zeilen lauten: „Doch Wunder ist Wunder. Ist Gott, / Wenn wir in tiefster Verzweiflung zweifeln, / ereilt es uns unverhofft.“ (Ü: Pietraß) bzw. „Das Wunder ist Gott, der im Wunder erscheint. / Selbst uns, die verzweifelt an Abgründen leben, / Erreicht es; ganz unverhofft sucht es uns heim.“ (Ü: Fischer)

Ich verstehe das Gedicht so: Das russische Volk ist unterdrückt. Wenn es nach seinem freien Willen leben könnte, würde es auch Frucht bringen. Es bringt für Christus keine Frucht, weil es unfrei ist. Aber Christus kann auch Wunder tun – und das wird in dem dem Strafwunder folgenden Text im Neuen Testament ausgesprochen: Wer Glauben hat, versetzt Berge. Also: Es ist möglich, dass Gott auch an dem russischen Volk, das am Abgrund lebt, ein Wunder verbringt.

Die Übersetzung „heimsuchen“ wäre somit nicht korrekt. Es sei denn, es ist gemeint: Das russische Volk bringt keine Frucht, weil es nicht frei leben kann, darum wird Gott es vernichten, in den Abgrund stoßen, an dem es steht.

Hier wird deutlich, dass die Übersetzung die Interpretation massiv beeinflusst.

Gedicht 22: Schwere Tage

Es beschreibt den Leidensweg Jesu – aber ich denke, es nimmt auch Bezug auf das eigene Leiden bzw. das Leiden vieler in seiner Zeit. Es wird geschildert, wie anerkannt Jesus war, dass ihm dann aber nur Ablehnung begegnete, listige Führer kamen, ausgeliefert wurde er dem Mob, die Menge war verzückt angesichts der Hinrichtung. Jesus erinnert sich an manche seiner Taten und fragt: War alles nur ein Traum? Es kam der Tod – die Kerze derer, die Jesus im Grab suchten (?) war „jäh hingestorben – / Als er auferstand aus dem Grab.“ Auch dieses Gedicht endet, wie oben gesehen, wie manch andere, mit einem Ausblick auf die Auferstehung.

Die Passionsgedichte wurden laut Iwinskaja 143 ihr in den Gulag geschickt. Allerdings wurden sie ihr nicht ausgehändigt. Sie musste sie in Gegenwart der Gulag-Leitung lesen.

Gedicht 23: Magdalena I

In diesem Gedicht wird geschildert, dass Maria Magdalena trauert, sie erinnert sich an ihre Sünden. Sie beschreibt ihr Gefühl angesichts des toten Jesus. Sie selbst hätte sich zerbrochen, wenn sie in ihrer Dunkelheit, ihrer Trauer nicht Jesu „heilige Ewigkeit“ gesehen hätte, die sie umgarnt, wie einst die Männer sie umgarnt haben. Sie spricht zu dem verstorbenen Jesus, dass sie mit ihm in Trauer vereint sei und er in dieser Vereinigung ihr Sünde, Hölle, Tod erklären solle. Die letzte Strophe wird vollkommen unterschiedlich übersetzt:

Fischer:
„Geliebter Jesus, ja, ich muss
Dir einmal noch die Füße waschen,
Dem Kreuzesbalken gilt mein Gruß,
Ich stürze hin, halb unbewusst,
Zu deinem (!) Leib, um erst am Schluss,
Um erst am Grab Dich zu verlassen.“

In Schiwago heißt es:
„Stütz ich, Jesus, deinen Fuß,
Ihn auf meinen Knien zu halten.
Gewinne ich vielleicht den Mut,
Ans Kreuz zu drängen meine Brust,
An deinen Leib, gefärbt vom Blut,
Und dich fürs Grab zu salben.“
(Pietraß)

Ich kann nicht sagen, welche Übersetzung wörtlicher ist. Pasternak kam es in seinen eigenen Übersetzungen vieler Gedichte aus dem Ausland nicht auf wörtliche Übereinstimmung an, sondern darauf, den Geist des Gedichts zu erfassen und ihn mit der eigenen Kultur zu verbinden. Von daher sei hier nicht die Übersetzung kritisiert. Deutlich wird: Maria Magdalena tut dem Leib des Verstorbenen noch etwas Gutes, und während sie das tut, spricht sie mit dem Verstorbenen. Sie hat den Abschied im Blick: sie muss ganz in seine Nähe kommen, näher geht es nicht – um ihn dann verlassen zu müssen.

Iwinskaja 127 berichtet von einem Verhör, in dem der Verhörende, der diese Gedichte gefunden hat, empört darüber ist, dass ihr Geliebter, also Pasternak, sie als sowjetische Frau als Magdalena bezeichnen würde. In diesem Kontext beschreibt sie die Hölle des Verhörs. Wenn das mit Pasternaks Gedicht verbunden wird, dann lebt Magdalena durch die heilige Ewigkeit angestrahlt in enger Verbindung mit Christus, überlebt die Hölle dadurch, dass sie sich an Jesus festklammert, mit ihm eine Einheit wird – auch eine Einheit im Leiden. Ist das ein christliches Mutmachgedicht? Aber soweit ich sehe, ist es vor der Verhaftung von Iwinskaja geschrieben worden, ist somit nicht auf Iwinskaja ausgerichtet gewesen, sondern auf die Lara des Romans bzw. auf Russland.

Gedicht 24: Magdalena II

In diesem Gedicht spricht Magdalena mit Christus. Sie netzt mit ihren Tränen, ihrem Leiden seine Füße. Im Neuen Testament sagt Jesus den protestierenden Jüngern, dass sie prophetisch handeln würde, mit Blick auf seinen Tod. In dem Gedicht schreibt Pasternak, dass Magdalena erkennt, dass sie nun die Zukunft prophezeien kann. Und sie prophezeit Jesu Sterben am Kreuz, beschreibt, wie sie am Kreuz hilflos niedersinkt. Sie sieht Jesu weit geöffnete Arme, fragt sich, welcher Mensch des Opfers Jesu würdig ist. Aber Menschen in unermesslicher Zahl flüchten hinein in die geöffneten Arme. Für sich selbst prophezeit sie die kommenden drei Tage, ihre Leere und Dunkelheit. Das Besondere: In diesen Tagen der Leere und Dunkelheit reift sie zur Auferstehung heran.

Durch das Leiden zur Auferstehung reifen. Das sieht Magdalena, bevor das eigentliche Leiden beginnt. Sie ist Prophetin. Alles trifft ein. Wenn Magdalena Lara ist, wird sie ihr Leiden erkennen und durch das Leiden hindurch zur Auferstehung reifen.

Aber ist nicht mehr zu erkennen? Ich spekuliere: Russland lag zu Jesu Füßen – aber weinend -, dann kam die Revolution, die Christen Russlands wurden verfolgt, Christus wurde getötet. Russland lebt in einer massiven Zeit des Leidens: drei Tage der Leere und Dunkelheit – und reift so zur Auferstehung heran. Die Zukunft, von der in Doktor Schiwago gesprochen wird, von der die Freunde, die nach dem Tod Schiwagos zusammengekommen sind, schon ein Teil sind (wie oben gesehen). Auch wenn Magdalena / Russland durch die Leere und Dunkelheit müssen – durch die Prophezeiung sind sie schon Teil der Auferstehung. Und Lesende werden ermutigt: Lara ist auf einmal verschwunden. Sie wurde vielleicht von Häschern erwischt und ins Lager deportiert. Drei Tage Leere und Dunkelheit – am Ende reift auch sie zur Auferstehung. (Zu Magdalena siehe auch Zwetajewa.)

Gedicht 25: Gethsemane

Dieses Gedicht weist im Grunde zeitlich zurück. Jesus steht noch vor seiner Hinrichtung. Er belehrt die Jünger, dass am Ende aller Tage die Völker aus dem Dunkel aufsteigen und gerichtet werden. Zudem weist es zurück auf das erste Gedicht, Hamlet, wie gesehen. Wie in Magdalena I und II dargelegt, geht es nicht allein um individuellen Glauben, sondern um Russland. Und so wird nun auch Russland bzw. die Sowjetunion, die unfruchtbar ist wie der Feigenbaum gerichtet werden. Der vom kommunistischen System geleugnete und verdrängte Christus erweist sich als Richter dieser sterbenden Ideologie.

Deutlich wird an Pasternak, dass der christliche Glaube dazu verhalf, in all der Not, dem Sterben, der Vernichtung zu erkennen, dass es eine gute Zukunft gibt. Die zerstörende und verstörende Realität hat nicht das letzte Wort. Das letzte Wort hat Christus – wie es in seiner Auferstehung schon vorgezeichnet ist. Laut Artikel im russischen Wikipedia hatte Pasternak einmal die Idee, den Roman Doktor Schiwago „Es gibt keinen Tod“ zu nennen.

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„Wenn es aufklart“ (Ü: Fischer)

Ein sehr intensiv christliches Gedicht ist: „Im Krankenhaus“. Nachdem Pasternak 1952/1953 einen Herzinfarkt hatte, beschrieb er die Situation in einem Gedicht von 1956. Er wurde in den Rettungswagen getragen, zum Krankenhaus gefahren. Er meinte, er müsse bald sterben. Da sah er einen Ahorn vorm Fenster winken, er sah seine blutroten Blätter (andere Ü: Etkind / Müller, spricht von flackernden Lichtern der Stadt). Er beginnt zu beten: „O Herr – was Du schufst, ist vollendet, / sprach leise der Kranke zu Gott.“ Ein paar Verse später wird Gott wieder angeredet: „O Herr, durch Erregung und Tränen / Hab Dich ich zu finden gehofft…“. Er erkennt einen Lichtschimmer – er erkennt den Reichtum seines Lebens, den Gott ihm gegeben hat. Die letzte Strophe lautet: „Im Krankenhaus muss ich verscheiden, / Ich fühle die Glut Deiner Hand; Für Dich bin ich Ring und Geschmeide, / Du bettest mich tief in den Samt.“ (andere Ü: Etkind / Müller 381: „Ich spür deine Hände wie Glut. / Ich bin dir ein Ring, eine Kette, / Du hältst, du verwahrst mich gut.“ Der Inhalt bleibt in etwa gleich. Besser verständlich allerdings ist die Zeile, die oben mit dem zweiten „O Herr“ angesprochen wird: „O Gott, von Erregung benommen / Vermag ich dich kaum noch zu sehn.“) Zu dem Gedicht „Im Krankenhaus“ sei auf den Brief hingewiesen, den er Nina Tabidse schrieb (17.01.1953) („Wenn es aufklart“, Ü: Christine Fischer 380): „In dieser Minute, die die letzte meines Lebens zu sein schien, hatte ich stärker als je zuvor den Wunsch, zu Gott zu sprechen, das Gesehene zu preisen, es einzufangen und zu bewahren. »Herr«, flüsterte ich, »ich danke Dir dafür, dass Du die Farben so satt aufträgst, dass Du Leben und Tod so gemacht hast, dass Deine Sprache Erhabenheit und Musik ist, dass Du mich zum Künstler gemacht hast, dass Schöpfertum Deine Schule ist, dass Du mein ganzes Leben auf diese Nacht vorbereitet hast.« Ich jubelte und weinte vor Glück.“ (S. auch Iwinskaja 148: in einem Brief an Marija Nikolajewna 1952)

Literatur:

Michel Aucouturier: Boris Pasternak in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt, Reinbek 1965

Efim Etkind: Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten. Ausgewählt und eingeleitet, Piper, München/Zürich 2. Auflage 1987

Olga Iwinskaja: Lara. Meine Zeit mit Pasternak, aus dem Russischen übersetzt und eingeleitet von Heddy Pross-Weerth, Bertelsmann, Gütersloh 1978(?)

Raissa Orlowa/Lew Kopelew: Boris Pasternak, Gesamtbearbeitung Karl-Heinz Korn, Radius, Stuttgart 1986

Boris Pasternak: Eine Brücke aus Papier. Die Familienkorrespondenz 1921-1960, mitgeteilt von Jewgeni und Jelena Pasternak, deutsch von Gabriele Leupold, aufgrund der russischen Edition hg. v. Johanna Renate Döring-Smirnow, S. Fischer, Frankfurt 2000

Boris Pasternak: Olga Freudenberg. Briefwechsel 1910-1954. Mit einem Vorwort von Raissa Orlowa Kopelew, deutsch von Rosemarie Tietze, eingeleitet und kommentiert von Johanna Renate Döring-Smirnow, S. Fischer, Frankfurt 1986

Boris Pasternak: Geleitbrief. Entwurf zu einem Selbstbildnis, aus dem Russischen von Gisela Drohla durgesehen und ergänzt von Barbara Conrad, S. Fischer, Frankfurt 1986

Boris Pasternak: Doktor Schiwago, Roman, aus dem Russischen von Thomas Reschke, mit einem Nachwort von Ulrich Schmid, Nachdichtung der Gedichte von Richard Pietraß, S. Fischer, Frankfurt 2014

Boris Pasternak: Meine Schwester – das Leben, Werkausgabe Bd. 1, Herausgegeben von Christine Fischer, S. Fischer-E-Book, Frankfurt 2015

Boris Pasternak: Zweite Geburt, Werkausgabe Bd. 2, Hg. v. Christine Fischer, S. Fischer-E-Book, Frankfurt 2016

Boris Pasternak: Wenn es aufklart, Werkausgabe Bd. 3, Hg. v. Christine Fischer, S. Fischer-E-Book, Frankfurt 2017