Alphonse de Lamartine (1790-1869)

Alphonse de Lamartine (1790-1869)

Kind einer Familie des Landadels. Schulzeit im Internat, danach im Jesuitenkolleg. Die streng katholischen Eltern wollten nicht, dass er Napoleon dient. Er machte eine Reise nach Italien und verliebte sich. Die Liebe hat er schriftstellerisch verarbeitet. Er wurde Bürgermeister und Militär unter Ludwig XVIII. Er quittierte den Dienst verliebte sich während einer Kur. Die Geliebte starb – auch das verarbeitete er in seinen Werken. Er heiratete eine protestantische Engländerin, Marianne-Elise Birch. Daran wird sein offenes Wesen erkennbar. Er war – so stellt er sich mir dar – frei von den Ansichten der Menschen. Er trat für ein paar Jahre in den diplomatischen Dienst ein, verließ ihn, weil er mit einem zur Macht gekommenen Herrscher nicht einverstanden war. Reiste mit seiner Familie in den Orient, auf der seine Tochter an Tuberkulose starb. Was er wiederum in Texten verarbeitete. Nach der Rückkehr schrieb er zahlreiche weitere Texte unterschiedlichster Gattungen und wurde nicht unbedeutender Politiker, der den sozialen Missständen auch mit Hilfe der katholischen Soziallehre entgegentrat. Sein offenes Wesen wird auch hieran deutlich: Er hat 1841 eine Art Bekenntnis zum Frieden geschrieben, das auf schriftstellerische Aggressionen aus Deutschland (Arndt usw.) Völker verbindend reagierte. Allerdings hatte seine Friedfertigkeit, die in dem Lied zum Ausdruck kam, auch in Frankreich Gegenreaktionen hervorgerufen. Er schrieb in den letzten Lebensjahren noch an der Darstellung wichtiger Literatur. 1869 starb er verarmt, vom Staat unterstützt.

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Es ist nicht möglich auf so kurzem Raum die Tiefe und Fülle, die Breite und Erfahrungsgröße der Gedichte darzustellen. Ein paar Aspekte seien genannt.

In seinen Gedichten – tiefen Reflexionen – stellt er manchmal die gesamte Menschheitsgeschichte vor Augen, um seine Sicht begründet darzulegen. In „Unsterblichkeit“ mit Blick auf Gott: „Verborgner Gott, dein Tempel ist / Natur; sie schaut das Auge, dich der Geist; / Von deiner Herrlichkeit, nach der er forscht, / Bild, Widerschein und Spiegel ist die Welt. / Dein Blick der Tag, die Schönheit ist dein Lächeln, / Dich betet allenthalben an das Herz, / Es athmet überall die Seele dich… // So sprachst du: da vereinten unsre Herzen / Die Seufzer zu dem unbekannten Gott, / Von welchem unsre Sehnsucht uns gezeugt; / Ihn in den Werken liebend, brachten wir / Ihm auf den Knieen Huldigung früh und spät; / Und trunken flog zum Himmel von der Erde / Das Auge, von dem Kerker in sein Haus.“

In dem in Auseinandersetzung mit Atheismus spannendem Gedicht „Der Mensch. An Lord Byron“ beschreibt Lamartine, wie er auf allen möglichen Ebenen versucht hat, herauszufinden, was zählt (salopp gesagt). Er hat im Menschen ergründet, in sich selbst in Geschichte und Zukunft, in der Natur… – er fand nicht, bis er gefunden wurde von Gott. Zu Gottes Ruhm schreibt er – aber er weiß um die Zerbrechlichkeit des Menschen: „Am Rand des Nichts noch murmeln: Ehre dir!“ Der Mensch ist Zwiegestalt: „Von einer Seite Himmelsklarheit strahlt, / Und auf der andern ruht in Todesnacht.“ Aber: Gott hat mich geschaffen, darum ist es gut, darum kann ich Gott rühmen, schreibt Lamartine. Und sein langes Gedicht an Lord Byron endet (in freier Übertragung):

„Mut! Gefallenes Kind mit göttlicher Herkunft!
Jeder erkennt in deinen Augen
einen verfinsterten Strahl der Herrlichkeit des Himmels!
König der unsterblichen Lieder, erkenne dich selbst!
Überlasse den Kindern der Nacht Zweifel und Gotteslästerung;

Komm und nimm deinen hohen Platz ein,
unter diesen reinen Kindern der Herrlichkeit und des Lichts,
die Gott mit einem Hauch belebt,
die er zum Singen, zum Glauben und zum Lieben machte!“

Manches Gedicht ist eine vorweggenommene Auseinandersetzung mit negativen Sichtweisen, die erst später massiv in die französische Dichtung hineingekommen sind (Baudelaire, Verlaine, Rimbaud). Er beschreibt die Denkweise derer, die Gott ablehnen:

„Das Uebel in der Welt begann so fort zu thronen,
Und was da denkt und lebt in allen ihren Zonen,
Das trug des Leidens Spur;
Und Erde, Himmel, Geist und alle Creaturen
Sie ächzten, und es war die Stimme der Naturen
Ein langer Seufzer nur./
Ihr hebet zu den Au’n des Himmels eure Blicke,
Sucht Gott in seinem Werk, und, daß er Trost euch schicke,
Zum Schöpfer rufet ihr?
Weh euch! aus seinem Werk verbannt ist seine Güte!
Ihr suchet seinen Schutz? Euch sagt die Welt, es wüthe
Nur ein Verfolger hier!“

In der „Hymne“ schreibt er auch über sein wie ein Meer aufgewühltes Herz. Während der Sturm viele Laute hervorbringt: „Im Menschen doch der Laut des eignen Leids allein / Unsterblich widerhallt und keine Tröstung bringt.“ In dem Gedicht „Unsterblichkeit“ findet sich auch die Auseinandersetzung mit den Leuten des Epikur, das heißt mit denen, die meinen, mit dem Tod sei alles aus, alles sei nur zum Verderben und Sterben da, der Verstand sage es. Aber die Liebe hofft und das Gefühl setzt auf Gott, das „untrüglich, gütig Wesen“. Verstand und Liebe wissen ja schon um das kommende Morgenrot, bleiben also nicht im Abendrot und der folgenden Mitternacht stecken. Zudem ist die Nacht nicht allein dunkel, sondern „der ahnungsvolle Chor der Nachtgestirne“ gibt das Sehen zurück (Sterne spielen in vielen seiner Gedichte eine große Rolle). Gott bzw. die Vorsehung spricht in „Vorsehung“ selber zu dem Menschen, dass er in die Dunkelheit des Menschen den Verstand gebracht hat. Mit ihm konnte der Mensch Gott wahrnehmen. Aber dieser wird dann auch dazu verwendet, an Gott angesichts des Leids zu zweifeln. Die rational-emotionale Auseinandersetzung mit der Theodizee spielt für Lamartine eine bedeutsame Rolle. Angesichts der wenige Jahrzehnte zurückliegenden Geschichte (Französische Revolution, Napoleons Kriege, eigene Erfahrungen mit Blick auf das Sterben) verständlich. Und über den, der so viel Leiden nach Europa gebracht hat, schreibt er auch ein Gedicht: In „Bonaparte“ werden die Verbrechen Napoleons geschildert, dargelegt, dass diesem Mann nichts heilig war – doch am Ende seines Lebens unterwarf auch er sich dem Kreuz, indem er sich bekreuzigte. Auch Menschen, die sich selbst überhöhen, erkennen am Ende des Lebens Gottes Macht an. 

Aber wer ist Gott? In dem Gedicht „Gott“ beschreibt er unter vielem anderen: „So wie ein Tropfen in dem Ocean, / Geht im Unendlichen mein Denken unter.“ Er will den nicht begreifbaren Gott jedoch begreifen – und das versucht er dadurch, dass er in Gedichten mit Worten malt, was er fühlt. Und er malt in dem Gedicht viele Bilder deren Motive er der Natur und der Menschheitsgeschichte entnimmt. Mit apokalyptischem Ausblick sieht er dann: Gott wird am Ende der Welt alles sein. „Begreifen“, „Verstand“ – das ist das Thema vieler Gedichte. In einem, „Das Tal“, heißt es: „Gott gab dir den Verstand, daß er dir Gott soll zeigen“.

In „Gebet“ wird schön deutlich, wie er romantisch Gott, den Schöpfer, die Natur und sich selbst sieht. In diesem Gedicht heißt es:

„Ja, mein Verstand, er ist des Weltalls Stimme!
Auf Abends Strahl, auf Windes Flügel hebt
Er sich zu Gott, wie ein lebend’ger Duft,
Giebt eine Sprache jeder Creatur,
Und leiht der Welt, zum beten, meine Seele….

Es predigt deine Größe mir der Raum,
Die Erde deine Güte, deinen Glanz,
Die Sterne: selber hast du dich geschaffen
In deines Werkes Herrlichkeit; es strahlt
Die ganze Welt dein eigen Bild zurück,
Und meine Seele wiederum die Welt.“

Auch das Schöne der Welt nimmt er als Argument gegen den ewigen Tod. Denn derjenige, der alles so schön geschaffen hat, kann nicht Zerstörer sein. In „Der Glaube“ heißt es (immer auch in Auseinandersetzung mit Philosophie und Lebenszweifel):
„Doch während Zweifel ich und Lästrung hauche,
Mich selbst beweine, blickend auf das Grab,
Erwacht der Glaube, wie Erinnrung süß,
Bestrahlt mit Hoffnung meine blasse Zukunft,
Beseelt, entflammt im Todesschatten mich“.

Der Glaube ist der Lebensstern, der auch dann trägt, wenn der Verstand angesichts des Todes verbleicht. Der Glaube ist dann im Tod die Sonne, während die irdische sich verbirgt.

Texte aus: Auserlesene Gedichte von Alphonse de Lamartine, metrisch übersetzt von Gustav Schwab, 1826: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10093343?page=5 ; mit Ausnahme der „Hymne“, sie wurde entnommen: Französische Gedichte aus neun Jahrhunderten. Übertragen und mit dem Originaltext hg. v. Manfred Gsteiger, Lambert Schneider, Heidelberg o.J., 141.