Alessandro Manzoni: Inni sacri / Die heiligen Hymnen. Aus dem Italienischen neu übertragen von Dr. Paul Thun-Hohenstein, Theatiner Verlag, München 1924.
Infos aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Alessandro_Manzoni und https://it.wikipedia.org/wiki/Alessandro_Manzoni und: https://it.wikipedia.org/wiki/Opere_di_Alessandro_Manzoni und: https://it.wikipedia.org/wiki/Inni_sacri
Manzoni (1785-1873), italienischer Dichter. Die Mutter war literarisch interessiert – der Vater ist wohl unbekannt. Familiär ist alles recht verwickelt. Offiziell ist der Vater ein Graf aus einem alten Geschlecht, inoffiziell ist er der Sohn eines Juristen und Aufklärers. Die Mutter hatte sich 1792 von dem Grafen getrennt und sich mit einem anderen Grafen liiert, lebte in England und Frankreich. Der Sohn lebte bei dem Grafen-Vater, in kirchlichen Internaten, lebte nach der Schule ausschweifend und nach dem Tod des Vaters bei der Mutter in Paris. In der Schule war er als Versager bekannt, litt unter den gewalttätigen Mitschülern und Lehrern, begann Gedichte zu lieben und knüpfte Kontakte zu Literaten. Anfänglich war er französischen Aufgeklärten nahe und schrieb ein langes Gedicht, in der er die Göttin Freiheit gegen Kirche und Religion – aber nicht gegen die Werte des Evangeliums – singen lässt (1). Er erbte viel und wohnte dann in der Gegend von Mailand.
1810 konvertierte er, beeinflusst von seiner calvinistischen Frau, Enrichetta Blondel, zum jansenistischen Katholizismus. In dieser Zeit entstanden die Heiligen Hymnen, die unten vorgestellt werden. Er wurde von einem Makler betrogen, musste sein Erbe verkaufen – und hat den ihm gegenüber verschuldeten Bauern die Schulden erlassen. Er schrieb umstrittene und viel beachtete Tragödien, eines der bekanntesten Texte italienischer Dichtung: Der fünfte Mai / Il Cinque maggio, eine Ode, in der er Napoleon besingt, die menschlichen Schwächen und die Hoffnung auf Gott (2). Auch in anderen Werken blitzt seine christliche Intention durch (z.B. Die Verlobten: Gott steht im Leiden bei).
Nachdem Napoleon 1821 gestorben war, hat das absolutistische Österreich die Kontrolle über italienische Staaten übernommen. Es entstanden widerständige Geheimgruppen, und es wurden viele Freunde Manzonis und auch sein Sohn verhaftet, weil die Österreicher liberale und nationale Bestrebungen beseitigen wollten. Er schrieb einen Roman, der ihn sehr berühmt machte. Danach schrieb er nicht mehr viel, setzte sich, trotz seiner Neurosen und Ängste, aktiv für die Einheit Italiens ein. Er überlebte viele seiner Kinder und seine beiden Ehefrauen – er hatte nach dem Tod seiner ersten Frau noch einmal geheiratet. Er starb 1873 und wurde unter sehr großer Anteilnahme beerdigt. Verdi widmete ihm sein Requiem. https://de.wikipedia.org/wiki/Messa_da_Requiem
- https://www.alessandromanzoni.org/opere/33
- http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Gedichte/Gedichte+(Ausgabe+letzter+Hand.+1827)/Aus+fremden+Sprachen/Der+f%C3%BCnfte+Mai
Die Heiligen Hymnen wurden als 12 Kompositionen konzipiert, allerdings hat Manzoni zunächst 1815 vier veröffentlicht; 1822 kam „Pfingsten“ dazu. „Weihnachten von 1833“ – dem Todestag seiner Frau Enrichetta – wurde später zu den Heiligen Hymnen gerechnet. In Weihnachten von 1833 beschreibt er, dass Gott trotz seiner Gebete seine geliebte Frau an Weihnachten hat sterben lassen. Ab 1835 hat er daran nicht mehr gearbeitet.
In dem Gedicht: „Die Geburt“ / „Il Natale“ wird über die Geburt von Jesus Christus nachgedacht. Das Gedicht beginnt damit, dass ein Felssturz beschrieben wird. Die Steine, die zuoberst lagen, in der Sonne, reißen mit den anderen Steinen alles mit und liegen letztlich unten, unbewegt, tot. Klein beginnt der Felssturz – und wird immer gewaltiger. Und so ging es auch der Menschheit mit dem Sündenfall: Not und Qual verhindern, dass er sein Haupt erheben kann. Doch dann wird der geboren, der alles verändert: Eine silberne Quelle aus der Höhe „ergießt sich lebenspendend / Über alle Not und Qual.“ Warum macht Gott das? Gott, der nicht einmal von der Welt erfasst werden kann. Allein aufgrund seiner grenzenlosen Gnade. Und eben in dieser grenzenlosen Gnade erwählte er die junge Frau Maria, erwählte er die Armut und die reinen Armen. Die Hirten eilten zu dem Himmelskönig, doch der weint bedeckt mit dünnen Leinen. Und der kleine Himmelskönig wird ermuntert, nicht zu weinen, weil die Stürme, die auf der Erde rasen, über seinem Haupte sanft wehen. Der kleine Himmelskönig wird aufgefordert zu schlafen. Die Menschheit erkennt noch nicht, was geschah – aber sie wird den König bald erkennen.
Das Gedicht lebt von Kontrasten: Von höchster Höhe fallen Menschen hinab, Gott ist der unfassbare, wird im Menschen Jesus fassbar, Gott in seiner Herrlichkeit wendet sich den durch Sünde und Not erniedrigten Menschen zu. Das jetzige Zeitalter der Sünde – die kommende Erkenntnis der Bedeutung Jesu. Über Gott reden – mit Gott reden (Du). Der Himmelskönig, der den alle Welt nicht erfasst – wird Mensch, der Schmerz erfährt und weint.
Das Gedicht „Die Passion“ / „La Passione“ beschreibt das Leiden Christi. Erst schildert es, wie die christliche Gemeinde (uns) am Karfreitag in die Kirche geht. Er weist darauf hin, dass die Eucharistie nicht dargebracht wird und es wird wohl der Text aus dem Buch des Propheten Jesaja gelesen, der von dem Leiden Jesu spricht.
Die deutsche Übersetzung von Thun-Hohenstein trifft aus meiner Sicht nicht den Sinn des Textes, weil er das Wesen der Prophetie nicht kennt. Nicht zu sagen, was er ahnt, sondern: Er sagt, was Gott ihn sagen lässt – und das kann auch Propheten erschrecken.
Der zweite Teil der 2. Strophe lautet:
S’ode un carme: l’intento Isaia
Proferì questo sacro lamento,
In quel dì che un divino spavento
Gli affannava il fatidico cor.
Thun- Hohenstein übersetzt:
Ein Lied nur tönt, ein Lied der Klage,
Jesaias, des Propheten Schmerz,
Der schauervoll an jenem Tage
Sich senkte in sein ahnend Herz.
Eigene freie Ü.:
Ein Lied erklingt: die Stimme des Jesaja,
Der die heilige Klage singt,
An jenem Tag, an dem göttlicher Schrecken,
Sein prophetisches Herz bedrängte.
Der Autor befragt den Propheten. Dieser antwortet, wer der ist, von dem er sang. Es wird das Sterben Jesu Christi aus christlicher Perspektive in Übernahme der Passionsgeschichte erzählt, interpretiert. Zuletzt kommt in katholischer Tradition Maria in den Blick, die das Leiden des Sohnes ansehen musste.
Das Gedicht: „Die Auferstehung“ / „La Risurrezione“ beginnt mit Fragen: Wie ist Jesus auferstanden? Wie hat er dem Tod das Leben entrungen? Die Fragen werden beantwortet. So zum Beispiel damit, dass die Seele aus dem Reich der Toten wieder heraufkam, in den Körper eindrang und sagt: „Sorgi, disse, io son con Teh“ – „Steh auf, sagte sie, ich bin mit Dir“. Und mit der Auferweckung wurde die Sehnsucht der Väter / Ahnen gestillt: nicht der Tod soll herrschen, sondern das Leben. Nach einem Hinweis auf Propheten, die das schon verkündet hatten, werden Evangelienberichte wiedergegeben. Das heißt, dass die Botschaft nicht einfach neu ist, sondern mit alttestamentlichen Propheten begründet werden kann. Nun kehrt der Dichter wieder zurück in die Kirche, der Priester soll die AuferstehungBotschaft verkünden, er wendet sich an Maria und an die Mitglaubenden, ob arm, ob reich.
Mit Hinweis auf eine ganz besondere Art Freude der Christen formuliert die 15. Strophe, dass es mit der Osterfreude nicht um zügellosen, unheiligen Festlärm gehe, sondern Gerechte freuen sich anders. Sie freuen sich mit einer ruhigen, gelassenen Freude als ein Gleichnis der kommenden Freude. Die 16. Strophe kontrastiert die Menschen, die lieber das Dunkle suchen als die Helligkeit der Auferstehung.
Es folgt das Gedicht „Pfingsten“ / „La Pentecoste“. In diesem wird die Kirche angesprochen, die betet, duldet, Sakramente spendet. Sie wird gefragt, wo sie gewesen ist, als Christus getötet wurde. Sie blieb verborgen, bis der Geist Gottes kam, der Geist der Erneuerung. Von da an brauste, flammte die Botschaft in alle Welt – und stärkt die Schwachen. Manzoni lenkt den Blick auf die neue Freiheit, auf erneuerte Menschen, die auch durch Prüfungen / Martyrien und Versuchungen gehen, er spricht vom unerschütterlichen neuen Frieden, verspottet von der Welt, der Prüfungen trotzt. (Nova…, Nove…, Nova…, Pace…). Es folgt der Ruf der Gemeinde an den Geist Gottes, aus allen möglichen Gebieten der Erde („Uni per Te di cor“ / „vereint für Dich im Herzen“), er möge kommen. Die Folgen dieses Kommens werden intensiv beschrieben (Erneuerung, Leben, Sieg, Gedanken, Gaben, Trost, Lebensregeln). Er beendet das Gedicht mit dem Satz: „Es strahlt der suchende Blick dessen, der sterbend hofft.„
Das letzte Gedicht spricht die Marienfeiertage an: „Il Nome di Maria“ / „Der Name Mariä“. Die zahlreichen Mariengedichte überging ich in dieser Sammlung, obgleich an Maria das wunderbare Handeln Gottes erkennbar wird.
Das folgende Gedicht wurde, wie oben geschrieben, später der Sammlung zugerechnet:
In Weihnachten von 1833 beschreibt er das Weihnachtsfest – eigentlich ein Fest der Freude, das allerdings in diesem Zusammenhang des Sterbens seiner Frau nicht als Freudenfest gefeiert werden kann.
Entsprechend beginnt das Gedicht für Weihnachtsgedichte ungewohnt. Der schreckliche Gott wurde in Jesus Christus Mensch – Mensch im Leiden, im Leiden wie Manzoni auch. Das Kind in der Krippe leidet – ist aber derjenige, der den Sturm beherrscht. Der Mensch versucht durch sein Gebet den tödlichen Blitz abzuhalten, aber es gelingt dem Menschen nicht. Der Mensch ergibt sich dem Willen Gottes.
Dann wendet sich der Blick auf das leidende Kind. In dem Gedicht wird das Weinen des Kindes aufgenommen – das in dem Weihnachtsgedicht von 1815 schon begegnete. Der Blick wendet sich ab vom Schmerz des Dichters und dessen Klage hin zu der Krippe – er sieht Maria, die Mutter Jesu, mit dem Kind. Und Marias Schmerz vermischt sich mit seinem eigenen Schmerz.
In der dritten Strophe wird das innige Verhältnis der Mutter Jesu zu dem Kind deutlich. Es ist keine glorreiche Schilderung eines göttlichen Kindes, sondern eine des zärtlichen Schmerzes, der Liebe, der wankenden Gewissheit: „Er ist mein!“ – doch muss sie ihn abgeben: Der Schmerz, den sie ertragen wird, wenn ihr Sohn am Kreuz hingerichtet wird, wird in der 4. Strophe vertieft: Sie „wird dich sterbend schauen“ – also so wie Manzoni selbst das Sterben seiner Frau sah.
Das Gedicht endet wohl nicht mit dem Ruf: „Allmächtiger…“ – sondern mit dem Satz: Cecidere manus (*) – die Hände sanken nieder. Und wenn die Hände niedersinken, sinkt auch der Kopf nach unten. Bedeutet es Kapitulation – oder angesichts des Allmächtigen eine Erfahrung, Offenbarung Gottes, die demütig empfangen wird? Wie Thomas von Aquin angesichts einer Gottesoffenbarung nicht mehr zu schreiben vermochte – so kann Manzoni dieses Gedicht nicht mehr weiterschreiben? Oder interpretieren diese zwei Wörter den Satz aus der zweiten Strophe: „befrag unser Wollen / und entscheide nach deinem Willen“ (il voler nostro interroghi, / e a tuo voler decidi) – in Aufnahme des Gebetes Jesu: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe? Der Kampf, der in den ersten 2. Strophen geschildert wird, wird beendet: Ein resigniertes Verstummen und Hände sinken lassen – oder ein demütiges sich Beugen angesichts der Erkenntnis des Allmächtigen?
Ich denke, dass es als letzter Teil des Gedichts eine Steigerung beinhaltet. Erst die Klage angesichts eigenen Leids, angesichts des Schweigens Gottes, dann die Vermischung der eigenen Klage mit dem Leiden der Maria angesichts des Leidens ihres Sohnes, die Solidarität des weinenden göttlichen Kindes mit den leidenden Menschen – und zuletzt weist der Ruf: Allmächtiger! und: Cecidere manus auf eine dritte Ebene der Erkenntnis Gottes hin, die als Geheimnis nicht mehr aussprechbar, nicht mehr in Worte zu fassen ist: Ohnmacht und neue Erkenntnis fallen zusammen – durch den Allmächtigen Gott.
(*) Das Cecidere manus kommt häufiger in Vergils Aeneis vor. Hier eher im Sinne von: er resigniert, ist erschöpft, er ist ohnmächtig angesichts der Situation.