Elisabeth Langgässer (1899-1950)
Arbeitete als Lehrerin und veröffentlichte 1924 ihren ersten Gedichtband: „Der Wendekreis des Lammes“, der unten intensiver vorgestellt werden wird. In ihm werden – vereinfacht gesagt – Gedichte zu christlichen Feiertagen veröffentlicht. Auch die weiteren Werke sind intensiv christlich orientiert – auch wenn sie die Natur thematisieren. Sie war Tochter eines zur katholischen Kirche übergetretenen jüdischen Architekten, der schon 1909 starb. Sie arbeitete ab 1931 als freie Schriftstellerin und schrieb Texte unter anderem für den Rundfunk. In der Zeit des Nationalsozialismus hat sie mit Ina Seidel Frauengedichte herausgegeben und weitere Gedichte veröffentlicht, die unten angesprochen werden. Ab 1936 bekam sie Schwierigkeiten, durfte nicht mehr veröffentlichen, versuchte aber, dieses Verbot zu unterlaufen. In den 40ern musste sie in einer Fabrik (in Heimarbeit?) arbeiten. Eine ihrer Töchter, sie hatte insgesamt vier, die spätere Schriftstellerin Cordelia Edvardson, wurde unter anderem – weil (wie bei Klepper) der Zeitpunkt der Flucht nicht wahrgenommen wurde und es dann zu spät war – nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte das KZ. Elisabeth Langgässer selbst entging einer solchen Deportation 1943. Sie war an Multipler Sklerose erkrankt, konnte aber vor ihrem Tod nach 1945 noch weitere Werke, so ihr bekanntestes Werk „Das unauslöschliche Siegel“, veröffentlichen.
Ihre erste Tochter, Cordelia, war uneheliches Kind, das aus der Verbindung mit dem jüdischen Staatsrechtler Hermann Heller hervorging. Dieser löste, weil verheiratet, die Beziehung und Langgässer war Alleinerziehende und verlor darum auch ihre Lehrerin-Stelle. Danach zog sie nach Berlin und versuchte unter schweren Bedingungen Fuß zu fassen. Sie heiratete in Berlin den katholischen Philosophen Wilhelm Hoffmann, aber die finanzielle Lage wurde schwer, weil er wegen seiner Heirat mit der jüdischstämmigen Elisabeth Langgässer auch seine Arbeit verloren hatte.
Das schrieb ich, weil ihre Lebenssituation direkt nicht in den Gedichten deutlich wird, höchstens verschlüsselt. Als sie 1946 gehört hatte, dass ihre Tochter das KZ überlebte, schrieb sie wohl das Gedicht „Frühling 1946“: „Holde Anemone, / bist du wieder da / und erscheinst mit heller Krone / mir Geschundenem zum Lohne / wie Nausikaa?“ In den weiteren Strophen wird ihre Situation unter nationalsozialistischer Herrschaft beschrieben: „Reich der Kröte“, „Totenführers Flöte gräßlich noch im Ohr“, „Sah in Gorgos Auge / eisenharten Glanz, / ausgesprühte Lügenlauge / hört´ ich flüstern, daß sie tauge / mich zu töten ganz.“ Und endet mit Freude: „Anemone! Küssen / laß mich dein Gesicht“. Etwas deutlicher wird in „Gesang der Reklamemänner“ ihre Situation, als sie um zu überleben Werbetexte schrieb.
Was deutlicher wird als die Lebenssituationen, ist der Glaube – der allerdings… – alles weitere folgt nun.
In dem Gedicht aus den „Metamorphosen“ „Frühlingsmond“ stellt sie ein wenig Natur dar: „Abendhin färbt sich der Weiden / Purpurblau bis auf den Grund“ interpretiert es weiter „Flut, nicht vom Feuer zu scheiden, / hebt sich das Strombett der Heiden, / öffnet sich Heraklits Mund.“ Ich will das Gedicht nicht bis in alle Einzelheiten interpretieren. Es geht nur darum kurz anzudeuten, wie sie alte Traditionen aufgreift. Mit dem Abend ist das Abendrot verbunden, das flutende Feuer. Dieses wiederum verknüpft sie mit der uns prägenden Kultur der Antike. Feuer und Flut werden verbunden, weil es einmal das Abendrot zulässt, dann aber mit Heraklit, weil er versuchte, Gegensätzliches in eins zu sehen. Die zweite Strophe mischt wieder Natur mit der Antike. Die dritte Strophe hingegen verbindet Jesus Christus mit der Aeneas von Vergil: „Unter der stygischen Stelle / vogelhaft atmet Vergil. / Wenn der Durchbohrte die Welle / Lethes zerteilt, bricht die Schwelle, / und ist Äneas am Ziel.“ Der Durchbohrte ist Jesus Christus. Das ganze Gedicht hat den Untertitel: „…DESCENDIT AD INFEROS“ – das heißt: Hinabgestiegen in die Unterwelt – also das christliche Glaubensbekenntnis: Jesus Christus – hinabgestiegen in das Reich der Toten. Jesus Christus ist nach seiner Kreuzigung in das Reich der Toten hinabgestiegen, hat im Gedicht von Langgässer den Fluss des Vergessens (Lethe) geteilt wie Moses das Rote Meer und ermöglichte dann das Ziel des Aeneas zu erreichen: die Gründung des wahren Rom. Jesus Christus ist der Befreier der Antike. In ihm kommt die Antike an ihr Ziel. Die Kultur der Antike ist eine Vorstufe auf Christus hin. Wie ja auch die 4. Ekloge Vergils in christlicher Tradition als eine heidnische Ankündigung der Geburt von Jesus Christus gedeutet wird.
Mit dem Gedicht möchte ich verdeutlichen, dass eine Interpretation der Gedichte von Langgässer sich sehr umfangreich gestalten muss, damit die Anspielungen deutlich werden. Zudem reiht sie Bilder, Metaphern aneinander, die auf den ersten Blick nicht unbedingt zueinander passen, die einander aufheben, ergänzen. Das macht das Verstehen kompliziert. Das kann ich an dieser Stelle kaum leisten, darum werde ich nur ein paar Hinweise geben können. Mehr ist allerdings auch in der Kürze kaum zu leisten, weil es in meinem Fall kaum möglich ist, die Traditionen, die Langgässer aufgreift, detailliert nachvollziehen zu können. Zum Beispiel: Was weiß sie von wem über Vergils Aeneis?
In den „Metamorphosen“ beschreibt sie eben die Metamorphose der Antike zum Christentum, in der Gedichtsammlung davor „Der Laubmann und die Rose. Ein Jahreskreis“ schreibt sie vorneweg: „ROSA MYSTICA / TURRIS EBURNEA / DOMUS AUREA“ – Geheimnisvolle Rose / Elfenbeinerner Turm / Goldenes Haus – ein Text aus der Lauretanischen Marienlitanei. Maria kommt in den Gedichten vor in dem Begriff Rose und der Laubmann ist der irdische Mensch. Da ich Mariengedichte aus meiner Zusammenstellung „Gott in Gedichten“ ausgeschlossen habe, werde ich diese nicht weiter vertiefen. Aber damit wiederholt Langgässer, was sie in den „Tierkreisgedichte(n)“ gemacht hat. Die Gedichte selbst lassen christlichen Glauben nicht deutlich werden. Aber das lateinische Zitat ist das Vorzeichen, von dem her die Gedichte interpretiert werden müssen. Diesem Zyklus wird ein Zitat aus dem Römerbrief des Paulus vorangestellt: „Wir wissen, dass alle Kreaturen seufzen und in Wehen liegen bis jetzt.“ Es folgen Sternbildergedichte – mit ihnen viele Naturgedichte. Und sie alle stehen unter dem paulinischen Vorzeichen: Alle Kreatur seufzt. 1935 veröffentlicht bedeutet das: Das Seufzen der notleidenden Menschen wird in diesen aufgegriffen. Das gibt ihre grundsätzliche Sicht zum Ablauf der Menschengeschichte wieder: Jede von Menschen herbei geführte Katastrophe wird von Gott letztendlich beendet – wie er die Zeit des Nationalsozialismus 1945 beendet hat. Die Gedichte stammen von 1935 – man lebte also noch mitten in der Katastrophe. Und wie es in dem letzten Gedicht der Tierkreisgedichte, „Ausgang“, deutlich wird: Die Geschichte läuft und läuft, sie ist nicht aufzuhalten: „Höre den Wind im Gewölbe… / und er ist immer derselbe.“ Und in diesen immer wiederholten Weltabläufen der Tierkreisgedichte wird dann das Seufzen der Kreatur zur Sprache gebracht – manchmal auch mit positiven Metaphern vor allem in den Zwischengesängen. In dem ersten Zwischengesang wird deutlich: „Verloren scheint alles Beginnen / und endet bereits in dem Schoße – / doch durch des Adonis verrinnen / erbaute sich einmal die Rose…“. Das heißt: Der Same, so scheint es, endet im Schoß der Frau, ist aber der Beginn neuen Lebens. Adonis starb. Aphrodite weinte um ihn. Und ihre Tränen ließen Adonis-Rosen blühen. Das ist also die heidnische-mythologische Hoffnung auf ewiges Leben, darauf, dass das Seufzen der Kreatur beendet wird. Das Mythologische wurde dann im christlichen Glauben wie oben gesehen, durch die Auferstehung Jesu überwunden.
Diese Texte seien hier nicht weiter verfolgt, da sie die mythologische Vorstufe des christlichen Glaubens beschreiben – also 1935 das Heidnische, das zum Teil äußerst Brutale, die Wehen – und gleichzeitig durch das Vorzeichen aus Römer 8: das Seufzen und Sehnen der Kreatur, die Wehen mit Ausblick auf die Geburt, auf die Zeit Gottes hinweist.
Bevor ich auf „Wendekreis des Lammes“ zu sprechen komme, sei noch darauf hingewiesen, dass Langgässer aus meiner laienhaften Perspektive überhaupt nicht die brutale Zeit des Nationalsozialismus übergeht. Man muss nur die Metaphern zu lesen lernen. Sie ist nicht so deutlich wie Gertrud Kolmar 1933 in ihren allerdings unveröffentlichten Gedichten, aber es wird in den veröffentlichten Gedichten erkennbar.
Nun „Der Wendekreis des Lammes“ ihre ersten veröffentlichten Gedichte. Mein erster notierter Eindruck nach dem Lesen lautete: „Ungeheure Bewegung von Gott zu Mensch, von Mensch zu Gott, Schöpfung, Bewegungen verschiedenster Art, bis hin zu Klang und Tanz, es braust und strömt, es duftet und glüht, jauchzt und stürzt, strömt und birst, torkelt und wirbelt. Und gleichzeitig, wie es in einem Gedicht heißt: „Aus sich heraus bricht Gottes Habe, / schwingt in dem Kreis, den keine Inbrunst mißt, / ist Lobgemeinschaft, ist das Rad, dess´ Narbe / Bewegung ganz und und ganz Ruhe ist.“
Diese Strophe ist dem Gedicht zum „Fest der Beschneidung des Herrn“ entnommen. Und diesem Gedicht wird der Text des Evangeliums vorangestellt: „Und sein Name wird Jesus genannt.“ Damit ist auch der Zyklus beschrieben, der insgesamt „Ein Hymnus der Erlösung“ ist, wie der Untertitel des Gedichtzyklus lautet. Es handelt sich um Gedichte, die dem Kirchenjahr folgen, beginnend mit dem Advent und endend mit Allerheiligen. Das Kirchenjahr beginnt mit dem Advent, der Erwartung der Geburt Jesu, geht über Jesu Geburt (Weihnachten), seine Kreuzigung (Karfreitag) und Auferstehung (Ostern) weiter zur Auferstehung der Glaubenden (Allerheiligen). Das sind nur die groben Raster – viele Tage liegen noch dazwischen, die alle mit einem Gedicht versehen werden, selbst die vier Quatemberwochen – die drei Bußtage vor Weihnachten, die Zeit vor Ostern, nach Pfingsten und nach dem Fest der Kreuzerhöhung im September. Darin folgt sie in etwa einer ihrer Vorbilder, der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.
Die Gedichte können nicht einzeln beschrieben werden. Schon aufgrund der Fülle. Einzelne Aspekte seien genannt. Ziel ist es „in dem Licht des himmlischen Genesens / Natur durch Gnade ernst erlöst zu zeigen“, wie es in dem Eingangsgedicht heißt. „Ernst“. Ernst bedeutet, dass die Gnade Gottes dem Menschen Schmerz bereitet. Sie steht dem Menschen entgegen, der Mensch will sie im Grunde nicht. „Ergib dich ganz! Wohin du dich auch beugst, / mußt du im Mark das Schwert der Gottheit tragen, / bis du erschöpft auf deinen Knieen keuchst, / um Erde, Meer und Himmel zu entsagen.“ ([Weihnachten] „Quatember Mittwoch“). Weihnachten – Anbrechen des Tages, aber der Bau der Welt wird im Tiegel geschmolzen und schafft aus dem Schmerz die neue Erde. Gottes Einbruch in die Welt ist für Mensch und – wie die Passionsgedichte zeigen – für Gott schmerzhaft. Dieser Schmerz wird in vielen Gedichten ausgesprochen, auch wenn er mit positiven Worten ausgesprochen wird: „in dunklen Träumen zittern / durch uns der Berge Falten, / es bebt und will gewittern, / was wir in Händen halten. / Ziel! Furt! Und Siegeslauf! / Brich in uns auf! Brich auf!“ („Zweiter Weihnachtsfeiertag“) Gott wahrnehmen ist positiv, ist der heiße Wunsch, aber verbunden mit Beben, Aufbrechen, im Menschen aufbrechende und sich faltende Berge. „Schmilz liebend ab das Schwert und knie tief, / laut weinend, bis dich Gottes Liebe küßt, / daß trunken du in tausend Triebe schlägst / und Eden, voll von Duft und Honig, bist.“ („Vierter Adventssonntag“)
Aber all das sich Verschmerzen ist notwendig, da nur so die Einheit hergestellt werden kann. Durch das Leiden Christi ist erst ermöglicht: „Verwandtschaft bricht aus fremden Hüllen auf: / in jedem Tier fühlt unser Fleisch sich sprossen / seit Gott als Lamm sein Opferblut vergossen – / Verwandtschaft bricht aus fremden Hüllen auf.“ („Karsamstag“) Bzw. „Karfreitag“ heißt es in der letzten Strophe: „Bis endlich, daß vermähle / sich die erlöste Seele / der geist-empörten Welt, / das Drinnen und das Draußen / sich mit vereintem Brausen / süß in die Arme fällt.“ Einheit – und durch den Geist Gottes freilich auch die Einheit mit Gott, wie es die Pfingstgedichte wiedergeben. Und das gilt dann auch für die Völker: „Feierlich kreisen / mit Sonne und Wind / alle Geschöpfe, / die atmen und sind, // Um ihre Urform / das göttliche Wort. / Jähes Erkennen / schmilzt Wandung und Ort, // Und sie umschlingend / in zeitlosem Lauf, / brennen sie himmlisch / in Wohlgeruch auf.“ Damit ist wieder eine Art Schmerz gemeint – denn es wird das Opfer, allerdings auf einer himmlischen Ebene, angesprochen -, der allerdings wie das himmlische Opfer transformiert ist. („Quatember-Samstag“ [Fastenzeit])
Mir lag vor: Elisabeth Langgässer: Gedichte, Claassen Verlag Hamburg 1959