(In Bearbeitung)
Lizette Woodward Reese hatte eine Zwillingsschwester und drei weitere Geschwister. Ihre Eltern (ihre Mutter war Deutsche, wurde in Sachsen 1830 geboren) kämpften im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) auf der Seite der Konföderierten, obgleich Maryland selbst nicht zu diesem Zusammenschluss der Südländer gehörte, sondern gewaltsam von Lincoln abgehalten worden war, sich den Südstaaten zuzuwenden. Schon als Kind dichtete sie. Natur und Schönheit mit Blick auf die Vergänglichkeit waren ihre Hauptthemen. Auf der Seite https://www.rememberingbaltimore.net/2016/11/lizette-woodworth-reese.html wird aus ihren Kindheitserinnerungen zitiert, was ich hier wiedergebe, weil es auch ihre Gedichte verstehen hilft: Es gab nie viel Geld. Viele Güter dieser Welt musste ich entbehren. Aber im Frühling gab es immer Narzissen im Gras, und es gab Traditionen und Bücher und klares Denken und direkte Sprache und Würde des Lebens und der Arbeit und die Freiheit, sich zu bewegen und aufzuwachsen. Und wer von uns kann der Schönheit entgehen, ganz gleich, in welcher Gestalt oder unter welchem Namen sie auftritt?
Sie blieb unverheiratet (ich fand auch die Info, dass sie sich von einem Mann getrennt hatte). Sie war 33 Jahre lang Lehrerin an unterschiedlichen Schulen, auch an Schulen, in denen die unterschiedlichsten Kulturen zusammenkamen. Sie lehrte auch an einer Schule für afroamerikanische Schüler – wurde dann aber entlassen, weil Weiße keine Schwarzen unterrichten durften. Sie bekannte, dass sie als Lehrerin eine angeborene Autorität ausstrahlte, „denn von der Theorie des Unterrichtens, oder ob es eine solche gab, oder von der Notwendigkeit einer solchen, hatte ich überhaupt keine Ahnung“.
1890 gründete sie mit anderen den Woman´s Literary Club of Baltimore und versuchte Frauen zu ermutigen, sich der Literatur zuzuwenden. Sie war kirchlich und in der Kunstszene von Baltimore aktiv.
1896-1909 schrieb sie kaum etwas, weil es ihr schwerfiel, Bilder des Denkens mit Wörtern zusammenzuführen. In dieser Phase erschien dennoch ihr berühmtestes Gedicht: „Tears“ (1899). Neben Gedichten schrieb sie Memoiren und einen Roman.
Sie starb 1935. Eine Freundin von ihr errichtete eine Skulptur „Der gute Hirte“ (https://www.mdhistory.org/wp-content/uploads/2015/04/lizette-woodworth-reese-grace-turnbull-reese-monument-waverly-baltimore-ymca-md-650.jpg ) und auf ihrem Grabstein steht: I will sing unto the Lord a new song.
Manche Gedichte wurden vertont.
Bücher auf Englisch: https://archive.org/search?
Infos aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Lizette_Woodworth_Reese und: https://www.rememberingbaltimore.net/2016/11/lizette-woodworth-reese.html und: https://www.mdhistory.org/lizette-woodworth-reese-and-the-poetry-of-spring/
„Spicewood“ / „Gewürzholz“ (Baltimoore 1921, 2. Auflage)
A Handful of Lavender, Boston / New York / Cambridge 1893
A Quiet Road, Boston / New York 1896
Wild Cherry, Baltimoore 1923
A Wayside Lute, Portland Maine 1909
A Branch of May, Baltimoore 1887 (ihr erster veröffentlichter Band)
Texte s. auch: https://www.poetryfoundation.org/poems/52088/trust-56d23048ec007
Übersetzungen – eigene Arbeitsübertragungen. Und: https://www.lieder.net/lieder/get_text.html?TextId=145094 undhttps://allpoetry.com/items/read_by/Lizette%20Woodworth%20Reese?kind=poem&last_i=8519073&page=3
Nett ist das Gedicht „Bible Stories“ (in Laute am Wegesrand / A Wayside Lute). Die Mutter erzählt biblische Geschichten am Esstisch. Als sie lächelnd aufsteht, hat sie ihr blaues Kleid an – wie Maria, die Mutter von Jesus. Und dieses Bild blieb im Gedächtnis der Tochter haften, selbst als sie groß war. Und so hat sich auch in ihr festgesetzt: Der kleine Jesus speist mit ihr. In „An English Missal“ (A Quiet Road) schreibt sie, dass Maria das Gesicht ihrer Mutter habe.
Ähnlich ist es in dem Gedicht „Good Friday“ – Petrus, Jakobus und Johannes versagen, sie schlafen, sie verraten Jesus. Jesus hat auch die Autorin gerufen – sie hat ihn nicht erwartet und dennoch verraten. Jünger werden auch im Zusammenhang des Gedichts „The very Hour“ (Wild Cherry) thematisiert – die Jünger werden als du und ich beschrieben: Jesus Christus starb am Kreuz – und was machen die Jünger?: Petrus schaut mit Zwiebeln aus dem Küchenfenster, Jakobus kommt vorbei und sie halten ein Schwätzchen über Glück und Regen und Judas Iskariot hält an einer mit Hagebutten bewachsenen Wand seine Münzen fest. Im Grunde ein sehr sarkastisches Gedicht, aber die Realität spiegelnd. Jesu Leiden für die Jünger wird von ihnen nicht wahrgenommen, der Alltag ist wichtiger. Und das ist eben der Alltag der Menschen heute. Die Zeiten verschwimmen – damals = heute. Heute = damals. Und ich vermute, dass das auch in dem Gedicht „Her Dead Son“ geschieht: Gott hat viel gegeben – obgleich wir dessen nicht würdig sind. Und er hat auch den Sohn genommen – und sie möchte nun zu der Lieblichkeit hinwachsen, die der Sohn für sie war („at last to grow / Into the loveliness he was to me“) – aber nun eben anspricht, dass sie nun „of some poor worth to God“ ist. Damit ist Maria gemeint – aber eben auch die Frauen, die ihren Sohn verloren haben.
Wir haben hier also eine gewisse Gleichzeitigkeit. Was damals geschah – ist ein Abbild vom Jetzt.
In einem Weihnachtslied beschreibt sie, dass Maria ihrem Sohn ein Beruhigungslied singt: die Könige und Hirten sind fort – aber Josef und ich werden dich vor dem Leid beschützen. Und das Lied schließt: Maria sang es, „als das Licht erloschen war.“ („A Carol“ in: Wild Cherry). Maria ist eine ganz normale Mutter – Abbild der Mütter oder Mütter Abbild der Maria. Das wird auch in „His Mother in her hood of blue“ (Spicewood) ausgesprochen. Maria ruft Jesus, wie Mütter ihre Kinder rufen.
Der kleine Jesus – das Gedicht endet: „Friede dem Stall, Friede der Herde, / denn sie beherbergten ihn vor der Kälte!“ (A Christmas Folk-Song).
*
Unabhängig von biblischen Texten finden wir bei Reese Gebete und Beschreibungen der Beziehung zu Gott.
In dem Gedicht „The Wayfarer“ beschreibt sie sich selbst als eine, die wenig weiß und als Wanderin durchs Leben hin und her getrieben wird. Schönheit kann nicht geizig aufbewahrt werden. Aber nicht nur das – sie wird nicht einfach verloren, sondern sie ist weiter zu geben – wie Gott sich selbst hingegeben hat.
„There is but little that I know,
A wayfarer blown to and fro.
Beauty is not kept on a shelf,
For grudging dole; God gives Himself.“
In dem Gedicht „At Cockcrow“ beschreibt sie die Dämmerung. Aber vor Gott sind alle Wege gut sichtbar – was sie in Form eines Gebetes ausspricht. Und wie so oft beschreibt sie die Natur als Leben, das Leben mit der Natur: ob die Wege nun auf oder ab verlaufen, ob es Schafpfade sind oder Wege zur Stadt, kleine Wege an der Hecke… Und sie endet dieses Gebet damit, dass sie Gott anspricht und sagt: „Herr, wähle du für mich die Straße, die zu dir führt.“
Dieses Vertrauen in Gott wird auch in dem sechszeiligen Gedicht „In Harbor“ deutlich: Wenn ich hungrig bin, Herr, brauche ich Brot;
Wenn ich schwach bin, einen kühlenden Becher,
Nichts, wenn ich müde bin, nur ein Bett,
Wenn ich hinke, einen Stab, der mich stützt,
Wenn ich bedürftig bin, Felder zu beackern:
Und doch, Herr, ich warte auf deinen Willen. (eigene Ü)
Sie ist also mit diesem Glauben bei Gott in einem sicheren Hafen.
Sehr schön spricht sie auch in „A Holiday“ (A Quiet Road) aus, wie sie unter einem Baum sitzt und: jeder blühende Baum verkündet Gott, sie hat sein Buch – die Bibel – auf den Knieen. Sie sitzt da, sieht das geplünderte Nest, hört die Geräusche der Landwirtschaft, nimmt die Gerüche wahr – die Natur ist ihr Gasthaus und sie ist ihr glücklicher Gast.
In dem Gedicht: „Herbs“ beschreibt die erste Strophe ein idyllisches Landleben, alte Häuser, voller Kräutergerüche, voller Ruhe, alte Glaubenstradition. Diese Strophe endet:
Lieb ist sein alter Duft
Für Leute, die die vergessenen Tage lieben,
Und nicht denken, dass Gott nicht ist.
In der letzten Strophe beschreibt sie den Verlust des Alten, des Vergangenen, aber:
Und doch sicher in Gottes Händen, –
Denn sollen die stumpfen Kräuter wieder leben,
Und nicht die Menschenkinder?
Die Kräuter sind im Herbst verschwunden. Ihr Wachsen, Streben, Hoffen – verschwunden sind sie von der Erde – aber geborgen in Gottes Händen. Und swenn es den Kräutern so geht, im Frühjahr?, sollte es den Menschenkindern nicht auch so ergehen?
In dem Gedicht „Death´s Inn“ beschreibt sie, dass eine Sterbende nach großem Leiden fragte, ob in Bethlehem Platz für sie sei, denn für Jesus war kein Platz. Aber: Der Wirt sagte ihr, dass Jesu Name an einer Tür stehen würde, und sie trat dann in diesen Raum Jesu, der für sie gestorben war, ein.
„Meine Liebste trat sofort ein:
Sie ist nie wiedergekommen.“
Die Gedichtsammlung „Spicewood“ / „Gewürzholz“ beginnt mit dem Titel gebenden Gedicht („Spicewood“) und die ersten Wörter lauten: Praise God that of a surety it is spring. Die Natur steht wieder in fast allen Gedichten im Blick. Sie wird aber immer wieder verbunden mit anderen Themen. So wird n dem Gedichtband auch intensiv besungen, wie gering sie doch ist – vom Tod gequält wird. Der Tod der Mutter wird bedichtet – in dem Gedicht „Daffodils“ / „Narzissen“ wird ihr bewusst, dass Gott den Toten ein Haus gebaut hat – auch hier also das Sterben als Eingang in einen Raum Gottes:
„There comes a vision to my mind, /
So comfortable and so kind –
Beyond the fret of time or clod,
There is a house builded by God.“
Mit dem Tod beschäftigt sie sich auch in ihrem berühmtesten Gedicht „Tears“. https://www.youtube.com/watch?v=FdLCmHvyu6k
Wenn ich an das Leben und seine wenigen Jahre denke –
ein Nebelschleier zwischen uns und der Sonne;
ein Ruf zur Schlacht, und die Schlacht ist entschieden,
bevor das letzte Echo in unseren Ohren verhallt;
eine Rose, die im Gras erstickt; eine Stunde der Ängste;
die Böen, die an einer dunklen Küste vorbeischlagen;
das Aufbrechen von Musik in einer stillen Straße –,
wundere ich mich über die Sinnlosigkeit der Tränen.
Ihr Alten, alten Toten und ihr von gestern,
Häuptlinge, Barden und Schafhirten,
mit jedem Kelch des Kummers, den ihr trankt,
befreit mich von den Tränen und lasst mich klar sehen,
wie jeder von uns zurückbekommt, was er einst beweinte:
Homer sein Augenlicht, David seinen kleinen Sohn!
Die Alten weinten – aber sie machten weiter. Tränen waren nur ein Moment in ihrem Leben. Sie sollen ihr nun helfen, das zu erkennen, dass Leiden nur Augenblicke sind.
David beweinte seinen kleinen Sohn, bevor dieser nach schwerer Krankheit gestorben war. Nachdem er gestorben war, begann er sein weiteres Leben mit Gott ohne Trauer, mit der Erwartung den Sohn im ewigen Leben wiederzusehen. Auch der laut Legende erblindete Homer hat nicht wieder gesehen, sondern er hat aufgrund seiner Blindheit tiefer gesehen, er hat Welt erkannt und in seinen Werken wiedergegeben. Die Alten helfen, die Trauer in der Gegenwart zu überwinden, indem sie zeigen, dass Kunst und Glaube vertiefter und neu die Welt sehen lassen.
Auch das Gedicht, das sie an ihren „Bruder“: „Thomas´s Kempis“ (A Handful of Lavender) schreibt, ist an einen Alten gerichtet. In dem Gedicht geht es um den Mystiker Thomas von Kempen, einem Mönch aus dem 14. / 15. Jahrhundert, der das berühmte Buch „Nachfolge Christi“ geschrieben hat. Dieser Mönch lebt, so beschreibt sie ihn im Gedicht, in der Natur, umgeben von Blumen, Duft und Tieren, umgeben von Licht und Stille. Er betet. Und die Autorin sendet ihr Herz in die Zeit der Ruhe, in der Thomas lebte.
Die letzten zwei Strophen kontrastieren diese Welt des Thomas mit der gegenwärtigen Welt des Lärms. Aber die Erinnerung an das wunderbare Erbe hat Auswirkungen auf die Gegenwart (eigene Ü.):
Geboren in diese lärmenden Tage, in diese arbeitskranke Zeit,
sehne ich mich nach dem stillen Erbe;
ein Gedanke an Dich ist wie der Duft einer Blüte
wehend durch einen lärmenden Raum.
Du bist lebendig, nicht tot. Ich stelle dich mir vor,
ganz nah über die Weite des Meeres hinweg,
und finde trotz des stürmischen Wetters
Frieden und einen Tröster.
Die Alten sind sozusagen Leuchtfeuer, um das eigene Leben bewältigen zu können – auch wenn es in einer ganz anderen Zeit zu verorten ist.
Einem Stadtpoeten (A Quiet Road) schreibt sie unter anderem:
Be reverend and know
Ill shall not last, or waste the ploughëd land;
Or creeds sting timid souls; and naught at all,
Whatever else befall,
Can keep us from the hollow of God’s hand.
Mit eigenen Worten gesagt: was auch immer geschehen mag, nichts kann uns aus Gottes Hand reißen.
Und so ein vertrauensvoller Text ist auch „A little Song of Live“ zu finden. In der letzten Strophe schreibt sie als eine Art Lebensmotto:
All that we need to do,
Be we low or high,
Is to see that we grow
Nearer the sky.
Damit ist auch das Gedicht zu vergleichen: „Trust“ (A Quiet Road). Es handelt sich um ein Gebet, in dem sie sich als süßes, wachsendes Gras beschreibt – mit Blick auf das Sterben:
I am thy grass, O Lord!
I grow up sweet and tall
But for a day; beneath Thy sword
To lie at evenfall.
Yet have I not enough
In that brief day of mine?
The wind, the bees, the wholesome stuff
The sun pours out like wine.
Behold, this is my crown;
Love will not let me be;
Love holds me here; Love cuts me down;
And it is well with me.
Lord, Love, keep it but so;
Thy purpose is full plain;
I die that after I may grow
As tall, as sweet again.
Aber in A Handle of Lavender ist sie kritischer mit dem Glauben, zwei kurz Sentenzen: „Zweifel“ und „Wahrheit“ sprechen aus:
Glaubensbekenntnisse wachsen so dicht entlang des Weges, dass ihre Äste Gott verbergen, sodass ich nicht beten kann. Bzw.: Der alte Glaube zündet überall Kerzen an, doch die robuste Wahrheit kommt vorbei und bläst sie aus. (eigene Ü.)
Sie bemerkt ebenso ihre eigene Entfernung von Gott in dem Gedicht „Lord, oft I come“.
Sie geht häufig zu Gott, aber: Gott öffnet ihr die Tür – doch sie geht in die Dunkelheit. Sie bitte Gott um ein Geschenk – Gott schenkt ihr Brot und Wein – aber sie geht leer den Weg und süßer ist jeder Stein. Gott fordert Schnelle – sie bleibt steh´n, Gott fordert steh – und sie geht. Die letzte Bitte lautet: „Lord, make me Thine in dead and will, / And ever keep me so!“
Eines der letzten Gedichte dieses Bandes A Handle of Lavender wird mit „Heroism“ überschrieben. Und es lautet in eigener Übersetzung:
Ob wir hinaufklettern oder ob wir trotten,
um eine Aufgabe zu erfüllen, die uns die wenigen Jahre gewähren –
einen Weg zu wählen, der zu Gott führt,
und ihn bis zum Ende zu gehen. (eigene Ü.)
Nett finde ich dieses Gedicht („A Girls Mood“, in: Wild Cherry), das ganz einfach daherkommt, aber die Stimmung wunderbar einfängt: https://www.lieder.net/lieder/get_text.html?TextId=145112
Das Mädchen sagt überschwänglich, was es alles liebt: das Gebetbuch, den Weißdorn, das alte Haus, den Sonnenuntergang…, es mündet dann ein: ich liebe den Liebling, hätte ich einen, ich würde ihm das alles geben, mich selbst und die Sonne.
Zwei Gedichte möchte ich intensiver ansprechen:
Das Gedicht „Anne“ (A Handful of Lavender) spricht ganz sensibel die Theodizeefrage an – aber im Kontext von Schönheit:
Beschrieben wird ein Gottesdienst. Ein wunderschönes Mädchen betritt den Gottesdienstraum. Der puritanische Pfarrer predigt über Hölle und Sünde. Aber, so denkt das lyrische Ich, Gott hat den Menschen wunderschön gemacht, warum hat er sie zum „Himmel“ auf Erden gemacht? Das hereinkommende Mädchen wird im Grunde in göttliches Licht getaucht, das das lyrische Ich des Gedichts zum Gotteslob und zum Gebet berührt. Zu Beginn und am Ende des Gedichts kommt das eigene Alter in den Blick: melancholisch – wünsche jung zu sein – der Wunsch, das Gebet bleibt unerhört: ich bin und bleibe alt, sodass sich nur die Frage stellt: Wie wirke ich mit meinen 40 Jahren neben der süßen 16 jährigen.
Kurz: Sie kontrastiert die Höllenpredigt des Pfarrers mit der Schönheit der Welt – und der vergehenden Schönheit. Aber die Schönheit der kommenden Welt ist nicht im Blick – weil das lyrische Ich von irdischer Schönheit gefesselt ist. Anders, aus christlicher Perspektive gesagt: Wenn schon die gefallene Schöpfung so schön ist, wie erst die Vollkommenheit, die Herrlichkeit bei Gott? Der puritanische Pfarrer bleibt nicht in der schönen Gegenwart stecken, sondern in der höllischen Zukunft. Er übersieht die irdische Schönheit.
Reese stellt dem Gedicht folgendes voran: „Sudbury Meeting House 1653“ – also eine Kirche/Versammlungshaus über 200 Jahre vor ihrer Zeit. Auch damals also haben Menschen die Diskrepanz, so teilt sie mit, zwischen Höllenpredigt und Schönheit des Geschöpfes wahrgenommen – und das eigene Altern.
Auch in diesem Gedicht begegnet uns die Natur. Es ist aber verständlich, ohne dass die Natur erwähnt wird. Aber, warum verwendet sie die Natur? Mit Hinweisen auf die Natur werden die Sinne intensiver aktiviert, diejenigen, die das gedicht lesen, werden stärker emotional erfasst. Als Mensch meiner Gegenwart stellt sich allerdings die Frage: Geschieht das auch mit den Lesenden in den Städten, die im Häusermeer aufwachsen, Veilchen usw. nur aus Filmen kennen?
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Ein äußerst spannendes Gedicht ist „The Death Potion“ / „Der Todestrank“ (A Handful of Lavender). In diesem spricht eine Frau ihren Hass gegenüber einer Rivalin aus, die ihr den Mann ausgespannt hat. Sie möchte sie mit einem Gifttrank töten. Darüber denkt sie äußerst kontrastreich nach. Unter anderem denkt sie, dass sie, die ihr den Mann genommen hat, wenn sie tot ist, von den Menschen quasi geheiligt wird, weil ihr Leichnam mit einem Kreuz verziert wird und Kerzen um sie aufgestellt werden. Aber, so ihre Frage, kann eine Diebin in den Himmel kommen?
Am Ende bleibt die Frage: Hat sie die Rivalin wirklich getötet? Ich denke, das bleibt offen, vermute aber eher, dass es Zornesgedanken sind. Aber im letzten Satz malt sie sich gefährlich aus, dass es wie früher werden würde, wenn die Rivalin tot sein würde: „And I be his, and he be mine“.
Das Spannende an diesem Gedicht ist nicht nur die dargelegte Diskrepanz zwischen menschlichem Unvermögen Recht und Unrecht zu unterscheiden (die Gemeinde ehrt die Diebin), sondern dass die einzelnen Strophen rhythmisch unterbrochen werden – wie in der Liturgie mit: „Höre, Herr Jesus!“. Ihr Hass, ihr Zorn wird also in religiöser Spannung dargelegt. Jesus möge ihren Schmerz hören, er möge ihren Zorn verstehen, der Zornes-Monolog wird in der Gegenwart Jesu – gottesdienstlich – vollzogen. Ihr eigenes inneres Denken wird nach Außen – also zu Gott – getragen. Sie weiß darum, dass Jesus Vergebung predigt, aber sie ist nicht in der Lage zu vergeben. Durch die Anrufung Gottes will sie sich im Grunde selbst im Zorn bestätigen. Durch die liturgische Form zieht sie die betende Gemeinde gedanklich mit ein. Sie fordert somit von der Gemeinde Rechtfertigung für ihre Zornestat.
In dem Gedicht begegnet die Aussage: Sie würde dem Mann sogar mit ihren Haaren die Füße trocknen – sie erinnert damit an die Frau, die Füße Jesu trocknete, aus Dankbarkeit dafür, dass ihr vergeben wurde. Mit diesem Satz wird die neutestamentliche Erzählung vollkommen auf dem Kopf gestellt. Kurz: Der Zorn ist außer Rand und Band, er weiß nicht mehr, was er eigentlich schwätzt – und das eben in der Gegenwart Gottes.
Es sind Gedichte voller nachdenklicher Leichtigkeit. Auch wenn der Glaube als Spannung begriffen wird. So in Wild Cherry in dem Gedicht The Change. In diesem beschreibt sie, dass sie alles vergessen hat – auch das Gebet, das sie abends im Bett sprechen würde. Dann weist sie aber auf das hin, was sie nicht vergisst. Das Gedicht endet: „My prayers rise up, each like a spear, / So sharp that God cannot but hear.“ Mir wird nicht deutlich. Möglicherweise weisen die Worte davor darauf hin: es geht um ein trockenes, heißes Feld, ein Reh das flieht, eine alte Frau „in a hood“. Könnte es sein, dass hier Leiden in den Blick kommt, das sie nicht vergessen kann? Allerdings weisen die Zeilen vor diesen negativ befrachteten Wörtern eher auf Normalität hin: Rauschen des Windes, Duft des Ysops – und sie werden dann in genannte negativ befrachteten Wörter überführt.