Ada Negri (1870-1945)

(In Bearbeitung)

Ada Negri war Kind eines Kutschers, ein Alkoholiker, der 1871 gestorben ist, und einer Weberin, die eine Anstellung in einer Fabrik bekommen hatte. Sie ist also in eine gesellschaftliche Schicht hinein geboren worden, die von Armut und schwerer Arbeit geprägt war. Ihre Großmutter arbeitete als Hausmeisterin bei einer Adelsfamilie. Hier war Ada als Kind häufig. Sie kannte also beide Welten, die Welt der Armut und die Welt des Reichtums, die Welt der Knechtschaft und die Welt der Freien, die Welt der Fronarbeit und die der Kreativität – um es plakativ zu formulieren. Sie schrieb in ihrer Jugend Gedichte, wurde früh von einem Lehrer gefördert, Gedichte wurden veröffentlicht. Schon mit 18 wurde sie Lehrerin in einem Dorf, wenig später in Mailand. Dort verlobte sie sich mit einem Sozialisten, und wurde aufgrund der sozialen Thematik ihrer Gedichte wertgeschätzt. Sie löste die Verlobung und heiratete einen Industriellen. Eine ihrer zwei Töchter starb, als sie noch Säugling war. 1899 gründete sie mit anderen die Nationale Frauenunion und einen Kindergarten, der sich, was Nächstenliebe betrifft, von den traditionellen Kindergärten unterscheiden sollte. Sie trennte sich von ihrem Mann und zog bis zum 1. Weltkrieg in die Schweiz, kehrte dann nach Italien zurück. Mussolini hat sie 1927 für den Nobelpreis vorgeschlagen, den sie jedoch nicht bekam. Den vom Corriere della Sella gestifteten – noch sozialistisch orientierten – MussoliniPreis bekam sie 1931. Das und dass sie 1940 in die Accademia dei Lincei aufgenommen wurde, schadete ihrem späteren Ruf, weil sie Treue auf Mussolinis Regime schwören musste. Aber schon 1896, als sie sich vom sozialistischen Verlobten trennte, wurde ihr Verrat am Sozialismus vorgeworfen. 1945 starb sie im Alter von 74 Jahren, nachdem sie sich stärker zurückgezogen hatte.

(Biographische Angaben aus: https://it.wikipedia.org/wiki/Ada_Negri)

In dem Band „Mutterschaft“ begegnen uns Gedanken einer werdenden Mutter, die im ersten Gedicht ihre Gefühle beschreibt – und die Männer aufruft, daran zu denken, dass sie von einer Frau geboren wurden, um endlich Frieden zu machen, anstatt sich gegenseitig umzubringen. Frauen bringen Leben, Männer nehmen Leben, so könnte es zusammengefasst werden.

In dem Gedicht „Es keimt“ denkt sie in der Nacht und fühlt sich wohl: „Ich spür in Mark und Bein / ein fromm Gefühl von Frieden. / Soll ich vielleicht hienieden / ein Werkzeug Gottes sein?“ (Text: Di pace un senso pio / per ogni vena io sento. / Sono io forse trumento / di Dio?…) In einer plötzlichen Ekstase verbindet sie sich mit der schwangeren Maria, hört allerdings nicht die Stimme des Engels, sondern ein Stimmchen, nicht weniger erschreckend (weil die Geburt bevorsteht), das der Mutter sagt: „Sieh zum Leben mich bereit!“ In dem Gedicht „Zwiegespräch“ allerdings will das Kind nicht geboren werden, die „Kreuzeslast“, die Grausamkeit der Welt ist zu groß. Doch die Mutter versucht das Ungeborene zu beruhigen: Ich helfe dir das Kreuz tragen. Es gibt kein Auflehnen, wenn Gott ruft – die Liebe der Mutter wird ihn umgeben. In dieser Liebe soll das Kind erblühen und erglühen. Aber in „Die Schmerzensreichen“ klagen die Mütter über die Grausamkeiten der Welt und flehen zu Gott: „Nimm uns das Kind, o Gott, noch eh es lebt -.“ Die Mütter wollen ihrem Kind Gutes tun, aber Arbeit und Sorge verhindern es. Und das Gedicht erinnert die klagenden Mütter daran, dass sie ja selbst geboren wurden. Und es schließt mit der Bitte: „Steh uns bei!“ (Text: „Soccorso!“) In „Beisammen“ schildert sie den Tod einer jungen, werdenden Mutter. Vielleicht, so die Gestorbene, ist es für dich besser so: wir entschwinden gemeinsam in die Ewigkeit. Denn in dem nächsten Gedicht „Mara“ wird eine Mutter geschildert, deren Sohn einen König getötet hat und nun darunter leiden muss. Der Sohn tötete, weil dieser den König für all das Leiden der Arbeiter, der verwirrten und verzweifelten Bürger verantwortlich gemacht hatte. Vielleicht hatte sie als Mutter den Keim der Rebellion in den Sohn gelegt, war somit Mithelferin. Damit geht sie auf das Massaker des Militärkommandanten Bava Beccaris in Mailand ein. Bava Beccaris ließ bei einem Aufstand wegen der Weizenpreise viele Menschen erschießen. Er bekam vom König einen Preis – der König, Umberto 1., wurde daraufhin von einem Anarchisten erschossen. Negri geht auf dieses Ereignis in weiteren Gedichten ein, z.B.: „Der siebente Mai 1898“.

In vielen Gedichten beschreibt sie Frauen mit den Schwierigkeiten als Mutter, sterbende Kinder – und vielfach bezogen auf die Armut der Menschen, die ausgemergelten Kräfte der Arbeiterinnen. In „Die Kindesausstattung“ möchte die Mutter ihren Jammer zu Gott schreien, „der ihr das Herz beschwert“. (42) Im „Weihnachtswiegenlied“  bittet die Mutter Gott: „Libera nos von Not und Leid!“ – und sieht die Not, die auf das Kindchen zukommen wird. Eine Not, die auch Jesus ertragen musste. Noch sind die Worte vom „Friede auf Erden und Brot / und den Menschen ein Wohlgefallen!“ schreckliche Lüge. Das solange bis „ein jedes Kind bei dem Weihnachtsfrühbrot, / das mit dir leidet die gleiche Not / und sein kärgliches Brot oft mit Tränen ißt, / erwacht mit der Seele von Jesus Christ“ – und zu kämpfen beginnt, die alte, schlimme Welt zertrümmert. Dann wird Frieden sein auf Erden. Und das Gedicht schließt: „So erzähl´ ich, mein Sohn, an dem Bettchen hier / mit unerschütterlichem Glauben dir / diese Weihnachtsgeschichte feierlich: / – Christkind meines Blutes, ich segne dich.“ (Text: —Cristo del sangue mio, ti benedico.—) Und in dem folgenden Gedicht „Jener Tag“ schildert sie eben diese Welt, in der keine Mutter sich mehr zur Fronarbeit zwingen lassen muss.

Spannend an diesen Gedichten ist aus christlicher Sicht, dass sie das Ungeborene bzw. das dann Geborene mit Jesus Christus verbindet und die Mutter mit Maria (vgl. auch „Bestimmung“; „Kalvarienberg der Mutter“). Es wird nicht in jedem Gedicht gesagt, aber durch die Einbettung der Gedichte, durch die geplante Reihenfolge wird das ganz deutlich. In dem Gedicht „Du allein“ wird ausgesprochen, dass der Mutterschaft das göttliche Siegel aufgedrückt wird – und sie allein geht auf dem Weg, den Gott des Lebens vorschreibt, um „der Welt die Erlösung zu bringen“. Was diese religiöse Verbindung des Lebens mit Maria/Christus erklären könnte.

In dem Gedicht „Die hundertjährige Greisin“ beschreibt sie das lange und erfüllte Leben einer Frau, die allerdings jetzt vor dem Tod schon in gewisser Weise tot ist. Allerdings wird die Aussage betont: „Sie betet“. „Sie erinnert nicht. – Denkt nicht mehr. – Betet.“ Was ist das für ein Beten? Gebet öffnet, Gebet ist bewusst, Gebet denkt… – denkt die Autorin an das Rosenkranzgebet, das wie automatisch gebetet, durch die Finger gleitet? Ist es das Beten, dass sich in der Gegenwart Gottes weiß – also nicht mehr redet, denkt? Die letzte Zeile des Gedichts könnte es aussprechen, was sie damit meint: „Die Ahnin träumt von Himmelsfrieden nur, / vom Flügelschlag, der sanft zu Gott sie bringt.“ Das Gebet wird zu einem Kontinuum vom Diesseits zum Jenseits. Die lebendig Tote ist nur ein „Abbild des Lebens“ – aber durch das Gebet nur ein Abbild des irdischen Lebens oder schon Abbild des ewigen Lebens?

Ich weiß nicht, was im Hintergrund des Gedichtes steht, das die Überschrift „Erlösung“ hat. Es schildert das Leiden und das üble Tun von Frau und Mann. Der Mann sagt der Frau: „Auf, folg´ mir nach.“ (Der Ruf Jesu) Es geht um ein neues Leben. Sie gehen und die Seele erleichtert sich durch Weinen, sie beten und der Regen tauft sie. Langsam erhellt sich ihr Gesicht, sie treffen auf Arbeiter auf dem Feld. Diese strecken die Arme nach beiden aus, und singen das Loblied auf Christus (cantico di Cristo): „Willkommen sei, der nackend litt und bang, / und der aus Not vom rechten Wege wich / der büßen musste Andrer Freveltat / und das Gesetz brach um ein dürftig Brot, / der ganz erkannt´ der Menschheit Schmach und Not / und heiß beweinte, was zermalmt ihn hat!…“. Jedes Leben wird verwandelt, Gerechtigkeit der Liebe bringt Erlösung allen. Spielt das an auf eine ideale Kirche – Gemeinschaft der Heiligen? Was ist das „Land auf Erden, wo man büßt, um neu zu leben“? „Credi: àlzati: andiamo.“ Glaub! Steh auf! Los geht´s!

In dem Gedicht „Die Mutter Erde“ spricht die Erde, was sie den Menschen alles Gutes gibt. Dann wird das jäh unterbrochen durch die Strophe über das Handeln der Menschen: „Von Wollust und von Geld / gebläht, zu ries´gem Trümmerhauf zusammenkracht / der Städte aufgehäufte Wahnsinnspracht, / von ihrem Stolz gefällt.“ Einsam bleibt die Mutter Erde zurück. Doch dann wiederum jäh – ein schönes Bild: Menschen ziehen durch die schöne Landschaft, eng an der Erde Herz geschmiegt, „wird ihnen Gottes heil´ge Wahrheit klar, / die Trug und Wahn besiegt.“ Und aus der Erde keimt Neues und sprudelt die Lebensquelle „klar / und frisch wie in der Früh, von der die Bibel spricht, / als auf ein göttlich Zeichen, kraftvoll, rein und licht, / das Leben sich gebar.“ (Soweit ich sehe, entspricht die deutsche Übersetzung nicht ganz dem Text: polla d’acque / fresche come nel biblico mattino, / quando, vergin di forze, ad un divino / cenno, la Vita nacque.)

Der Gedichtband endet mit einem Segensgedicht: —Dio ti salvi, ora e sempre—e così sia.—

Quelle: Ada Negri: Mutterschaft (Maternità), Ins Deutsche übertragen von Hedwig Jahn, Berlin, F. Fontane & Co. 1905; italienisch: https://www.gutenberg.org/cache/epub/36061/pg36061-images.html#madre-terra