Mit Jessenin hat der Dichter Nikolaj Kljujew (1884-1937) eine Zeitlang zusammen gearbeitet. Sie trennten sich. Während Jessenin versuchte, sich der bolschewistischen neuen Zeit anzupassen – es aber nicht so recht konnte – ging Kljujew später (nachdem auch er die Revolution als christliche Revolution begrüßt und Bauern befreiende Erwartungen an sie gestellt hatte) einen widerständigen Weg. Als Bauerndichter verstand er nicht, dass es der Revolution nur auf die Arbeiter und die Errichtung von Fabriken ankam. Die Kultur der Bauern wurde ignoriert, gar bekämpft. Die Bauern waren nur noch Nahrungsbringer – Mensch und Kultur zählten nicht. 1920 wurde Kljujew auf Drängen von anderen Schriftstellern wegen seines christlichen Glaubens aus der Partei ausgeschlossen und lebte in großer Armut, musste Hunger und Kälte ertragen. Durch den Ausschluss hatte er keine Möglichkeiten zu publizieren – und verdiente sich ein wenig durch betteln. Diesen widerständigen Weg war er zuvor auch schon in der Zarenzeit gegangen, war verhaftet und von der Geheimpolizei beobachtet worden. Er, der vor der Zusammenarbeit mit Jessenin fromme Wege ging, auch in Klöstern lebte (Erlebnisse, die nicht immer nachvollziehbar, vielleicht literarischer Art sind), beschrieb in Gedichten die Armut und die Kraft der Bauern. In der sowjetischen Zeit wurde er als Homosexueller heftigst kritisiert, verhaftet, freigelassen, 1932 trat er für verfolgte Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein (z.B. Achmatova), schrieb 1934 einen Gedichtzyklus „Verwüstung“ (https://ru.wikipedia.org/wiki/), in dem er gegen die Verbrechen der Behörden protestierte, wurde 1934 verhaftet, 1936 wurde er, so der Vorwurf, wegen Beteiligung an konterrevolutionärer kirchlicher Gruppe verhaftet, in der Verbannung freigelassen, verhaftet, schwer krank freigelassen, 1937 wegen Mitgliedschaft in einer konstruierten, somit nicht vorhandenen Widerstandsgruppe [Schentalinski 408]) erschossen. Seine Gedichte standen in altgläubiger religiöser Tradition (obgleich er sich nicht in dieser gesehen hat), die er mit dem Bauerntum verbunden hat. https://web.archive.org/web/20171015231111/http://www.lyrikwelt.de/hintergrund/klujev-bericht-h.htm Biographische Angaben aus: https://ru.wikipedia.org/wiki
Kljujew war wohl Nachfahre eines berühmten Predigers mit prophetischer Begabung aus dem 17. Jahrhundert, der ebenfalls für seinen Glauben eingetreten ist und getötet wurde. Er hatte sich einer Reform der Orthodoxen Kirche widersetzt.
Leider sind mir nur zwei Gedichte, die den Glauben reflektieren, zugänglich: Etkind 306f. In dem Gedichtfragment wünscht Kljujew einzugehen in die Wunden Christi durch die Taufe, er spricht vom Abendmahl, von den Trauben zu kosten, mit dem Blut Jesu, das singt, sich zu versengen, mit Christus am Kreuz zu sterben – dann ist in den letzten zwei Zeilen wohl die Auferstehung angesprochen worden. In dem Gedicht der „Sämann“ (1911/1918) schildert er dessen (wohl Jesu) Armut, dass er dennoch „licht und weise wie der Himmel“ ist, „Bin unenträtselt ich wie er.“ Die Menschen stoßen weit vor in der Welt, missachten jedoch ihn, die Weltseele. Die letzten Zeilen drohen das Weltgericht an. Er spricht sich 1922 (!) (s. Artikel ru.wikipedia) für ein Verstehen Christi aus, das Menschen stärkt und wieder zurückkehrt in die traditionelle Moral.
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Einen breiten Raum nimmt Kljujew in dem Werk von Witali Schentalinski: Das auferstandene Wort. Verfolgte russische Schriftsteller in ihren letzten Briefen, Gedichten und Aufzeichnungen, Lübbe-Verlag 1996 (Kapitel 12) ein. Die Sowjetregierung bekämpfte sein freies Wort, sie versuchte, ihn zum Verstummen zu bringen. Fast wäre es gelungen – aber es wurden Ermittlungsunterlagen gefunden, die das verhindern. Er wurde als „Dunkelmann und Reaktionär, ein Volksfeind und Verbrecher“, als „>ein mittelalterlicher Mystiker<…, >ein literarischer Agent des Kapitalismus<, >ein feindliches Element<“ angesehen und entsprechend von den Herrschenden misshandelt. Aber er ließ sich nicht einschüchtern, was ihn umso verdächtiger machte. In einem Verhörprotokoll spricht er von einem Gedicht: „Es gibt Dämonen der Pest, der Lepra und der Cholera“, in dem er die Meinung geäußert habe, „daß das Land durch die Oktoberrevolution in einen Abgrund des Leides und der Not gestürzt“ wurde, dass die Industrialisierungspolitik die „Schönheit des russischen Volkslebens“ zerstören werde, Millionen Menschen leiden. Das habe er auch in den Gedichten „Gamajuns Gesang“ und in seinem „Gedicht über den Weißmeer-Ostsee-Kanal“ ausgesprochen. Dass die Kollektivierung ein Übel sei, habe er in dem Gedicht „Das verbrannte Land“ zum Ausdruck (gebracht)“ (400f.). Wie Schentalinski schreibt, blieben Mandelstam und Kljujew in den Folterkammern standhaft, denn ihre Seele „gehört einem höheren Wesen.“ Auf Seite 403 wird aus dem Gedicht „Gamajuns Gesang“ zitiert, in dem er prophetisch die Zerstörung der Natur (der heiligen Erde) durch die Sowjets anprangert. In einem Gedicht greift er einen „Wermutsstern“ auf, der Wasser und Luft vergiftet, Menschen einen Pesthauch bringe und kein Vogel und Fisch dort mehr lebe. Der Wermutsstern ist, so Schentalinski, Aufnahme der Apokalypse des Johannes – und ein Wermutgewächs heißt im Russischen: Tschernobyl. In seinem Gedicht „Das Lied von der Großen Mutter“ werden religiöse Traditionen Russlands zusammengetragen. Man dachte, das Gedicht sei ganz verloren gegangen, es ist dann doch wieder aufgetaucht. Zuletzt auch hier: es werden Formulierungen der Apokalypse des Johannes aufgegriffen, um die schlimme Situation in der Sowjetunion wiederzugeben. Es endet laut Schentalinski damit, dass Christus einer Prozession russischer Heiliger entgegengeht, und „die Verschmelzung der Seelen eines Lebenden und eines Heiligen führt zum Aufbruch nach der unsichtbaren Stadt Kitesch“ – die eine für die russische Mythologie wichtige Stadt ist (416). Und die Zukunft bringt eine Vernichtung des barbarischen kommunistischen Systems. Schentalinski zitiert zum Schluss einen Text, der die Zerstörung des (bolschewistischen) Götzendienstes ausspricht und sagt, dass, wer der Heimat treu bleibt, dem „Brennt mit Tränen in die Seiten / Ein das Kreuz, das ewig leuchtet, / Wird, geheimnisvoll geleitet, / Pfade zwischen Zeilen, schauen / Wahrer Schönheit in die Augen.“ (418)
Die Bibel verhilft zur Sprachfindung, zur Einordnung von geschichtlichen Ereignissen der jeweiligen Zeit, weil Gott als Herr der Geschichte erkannt wird. Und Christus wird, aus der Perspektive der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes als einer gesehen, der den Blick auf die Zukunft öffnet und weitet. Christlicher Glaube schenkt Hoffnung wider allen Augenscheins.