Gertrud Kolmar (1894-1943)
Gertrud Kolmar (Künstlername) war Erzieherin, Sprachlehrerin. In dem Jahr, 1917/1918, in dem sie als Zensorin in einem Kriegsgefangenenlager arbeitete, erschien nach einer Liebesbeziehung und Abtreibung ihr erster Gedichtband. Der zweite Gedichtband führte 1934 dazu, dass der Verlag, der es veröffentlicht hatte, Ärger bekam. Der dritte Gedichtband wenige Monate vor der Reichspogromnacht erschienen, wurde missachtet. Ihr Haus musste die Familie verkaufen, Kolmar musste Zwangsarbeit leisten und wurde 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sie war, anders als ihre Geschwister, nicht geflüchtet, weil sie den Vater pflegen wollte.
Zu Gertrud Kolmar sei ausdrücklich auf diese Seite hingewiesen: http://www.planetlyrik.de/gertrud-kolmar-das-wort-der-stummen/2017/09/ Gedichte sind hier zu finden: Gedichte: https://gedichte.xbib.de/gedicht_Kolmar%2C453,0.htm Während der Beschäftigung mit Gertrud Kolmar habe ich herausgefunden, dass ich mich schon einmal intensiver mit ihr beschäftigt habe. Ich fand in meinem Bücherschrank die Biographie: Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar. Leben und Werk, suhrkamp 2001.
Gertrud Kolmar und Gott – ich beziehe mich im Wesentlichen auf das Buch: Frühe Gedichte (1917-22), Wort der Stummen (1933), Köselverlag München 1980. Mit den Gedichten von 1933 mache ich in meiner Darlegung von „Gott in Gedichten“ eine Ausnahme. Sie sind aufgrund der nationalsozialistischen Zeit erst nach ihrem Fund 1978 veröffentlicht worden. Sie sollen aber einen Kontrast bilden zu vielen anderen der hier vorgestellten Gedichte aus dieser Zeit – in der das Schicksal Inhaftierter und Juden-Erniedrigung kein Thema war. Grundlage ihrer Gedichte waren Erfahrungen, aber vor allem auch die Inhaftierung ihres Verwandten Georg Benjamin, der von Nationalsozialisten wegen seiner regen kommunistischen Tätigkeit im April 1933 inhaftiert worden war. Die Gedichte entstanden wohl in den Monaten August bis Oktober 1933. Im Dezember 1933 wurde Benjamin frei gelassen, dann 1936 erneut inhaftiert und ist 1942 im KZ gestorben.
Das Gottesbild von Kolmar ist recht „modern“: Ihr Verhältnis zu Gott ist unsicher – Gott ist ein Du, eine Macht, die allerdings nicht in das Geschehen eingreift, nichts sagt, aber einfach da ist. Zentral für diese Interpretation ist das letzte Gedicht, das die Sammlung „Wort der Stummen“ abschließt: „Der Engel im Walde“. Hier wird nicht von Gott geredet, sondern vom Engel – aber wie in alttestamentlichen Texten kann die Rede von Gott und Engel wechseln, da in jüdisch-christlicher Tradition Engel Boten Gottes sind. In diesem Gedicht heißt es: „Er wallte außer aller Wirklichkeit“ – aber: „Nicht unsre Not, nicht unser armes Glück, / Nur keusche Ruhe barg sein Schwingenpaar. / Ich folgte nach und stand und blieb zurück. / Er brachte nichts, er sagte nichts: er war.“ Gegenüber alttestamentlichen Texten ist der schweigsame Engel eine Besonderheit, denn immer dann, wenn in biblischer Tradition Engel kommen, sagen sie „Fürchte dich nicht“ und geben dem Menschen einen Auftrag. Der Engel Kolmars schweigt. Aber: Er ist – bzw. als Erlebnis: Er war. (Zu dem Band unten mehr; zu dem Engel siehe auch: Die Beterin)
In „Zeit und Ewigkeit“ finden wir viele religiöse Gedichte. In „Gebet“ spricht sie erst die Nacht an, bittet dann den Herrn der Welt um Schlaf und Liebestraum – und beginnt dann über den Herrn der Welt nachzudenken. Seine Größe ist im Blick, auch, dass er dem Menschen ermöglichte, seinen Geist/Verstand zu entdecken; sie begreift immer stärker: „Dein Sein kann keine unsrer Sprachen fassen, / Das Wort, das es erschöpft, bleibt stets uns fremd; / Wir müssen´s, dich zu nennen, ewig lassen, / Weil deine Größe unsre Zunge hemmt.“ Dann beschreibt sie Gott in seiner „Schönheit, Macht und Güte“ – aber dazu gehört: „Kein Herrscher bist du, der voll Zorn und Leid / Die Untertanen straft, die ihn nicht ehren – / Das tut nur irdische Gerechtigkeit!“ Menschen sind froh über das, was sie können – Gott zur Ehr – aber der Mensch macht sich selbst vor allem darum groß: „Daß deine Größe uns nicht ganz erdrückt.“ Der Mensch hat, weil er schwach ist, den Teufel Gott gegenüber gestellt, „der oft muß tragen unsrer Sünden Last, / Daß drunter nicht der Mensch zusammenbreche“. Warum der Mensch schwach, warum er Sünder ist, „Das können wir, / Das sollen wir auch nimmerdar ergründen.“ Dann kommt sie auf sich und die Menschen zu sprechen. Sicher ist der Stil dieses Textes anders als das anderer. Es ist reflexiver, aber dennoch passt er in den Duktus anderer Glaubens-Aussagen.
Mystisches Erlebnis beschreibt sie im „Gottes-Dienst“: „Jauchze, inneres Gebet! / Jauchze ohne Lippenstimme! / Da mein Körpersein vergeht, / Geist, in geist´gem Sein ich schwimme.“ Im geschilderten „Erlebnis“ hört sie den Ruf: „Komm!“: „Ich gab dem sinnenfernen Geist mich fromm/ Und fühlte staunend mich zwei Hände falten.“ Wie sie in dem genannten „Gebet“ sagte, will sie schweigen, das Herz allein betet weiter, so auch in dem Text, in dem sie Schuld ausspricht, „Gebet aus dem Sumpf“: „Heut nur ist ein Atemhauch Gebet, / Morgen lachen wir im Narrenkleid, / Aber unser ganzes Dasein fleht / Heute, morgen und in Ewigkeit.“ Diese Formel verlangt traditionell ein „Amen“. Auch der frühe Zyklus I enthält zahlreiche religiöse Texte, von dem ich nur „Nachtspruch“ zitieren möchte, weil er einiges von dem zusammenfasst, was soeben beschrieben wurde, zudem auch stärker Kritik an frommen Menschen ausspricht: „Führe Deine Frommen, / Und ihr Ziel, das heiße: Nie.“ Ich interpretiere das so: Fromme meinen, am Ziel angekommen zu sein; aber Gott möge den Frommen geben, dass sie merken, nie am Ziel anzukommen. Wenn man das Wort „Nie“ rückwärts liest, dann kommt „ein“ heraus. Wie dem auch sei: Das Ziel, das die Frommen im Blick haben, ist nicht absolut zu nehmen. Nachdem sie für die Frommen gebetet hat, betet sie weiter: „Laß Deine Lästerer kommen, / Kläre sie! // Und sprich allem Fehlen / Lautloses: Verziehn. / Wiege / Die Seelen, / Arme, irre Seelen, / Die vor Dir im Dunkeln fliehn.“ Dass Gott verzeiht und verzeihen möge, das finden wir häufiger in den Gedichten. „Gott “ ist nicht zu haben, der Mensch macht sich nur einen kleinen Gott, wie sie intensiv darstellt, sondern: „Er weilt. Er lastet schwer in mir. / Und soll erfordern, daß ich ihn noch finde? / Ich sinke, sieche hin, / Doch ob ich, Wurm, mich unter Sohlen winde: / Gott ist. Trotzdem ich bin.“ In „Die Leugnerin“ schildert sie, wie sie: „Einst zog ich Gott mit meinen Kleidern ab / Ich warf ihn hin. Er hing vom Stuhl herab.“ Dann, als „Ein Nachtmeer schauernd mich in den Morgen hob“ wollte sie Gott wieder haben. Doch: „Ich war allein und schluchzte, rief und rief / Und schrie.“ Dann gab sie auf, „Bin müd in mich verkrochen“. Doch dann ist er ganz eng wieder bei ihr: „Er war mir angewachsen als die Haut“ – aber als verletzte Haut.
Wie geht sie im letzten unveröffentlichten Gedichtmanuskript mit der Frage nach Gott um? Eingangs habe ich schon das Gedicht „Der Engel im Walde“ vom 25. Oktober 1933 dargelegt – das letzte der datierten Gedichte. In „Die gelbe Rose“ beschreibt sie, dass der Nordmann meint, er sei besser „als Jude und Hottentott“ und der Priester „ihm schafft einen neuen Gott“. „Ich warte auf alle gleich still mit der gleichen Schaufel voll Erde.“ Vielleicht ist das so zu verstehen, dass sie sich mächtig gebärden, aber der Tod auch ihrer wartet. Und sie gebärden sich mächtig im Erniedrigen von Menschen – und sie spricht ihre eigene Erniedrigung in religiöser Sprache an: „Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht! / Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen. / Herr, gib, daß ich wach mich stelle deinem heiligen großen Gericht, / Dann, wenn sie an blutendem Schopf furch die finsteren Löcher mich schleifen.“ Und diese Zeilen enden mit der Strophe: „Was ist das Leben? Ein Dung, drauf weiße Narzissen erblühn. / Was soll der Leib? Er war schön, doch bald muß er enden. / Was ist die Seele? Nur Fünkchen, nur kleines Glühn, / Und Einer deckt zu, deckt es zu mit den stillen, gewaltigen Händen…“
Und der erniedrigende Mensch? Er macht weiter. Nachdem sie in „Anno Domini 1933“ die Misshandlung eines Juden geschildert hat, er daran gestorben ist, heißt es: „Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz / Im fernen Staub des Morgenlands. // Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich / Im dritten, christlich-deutschen Reich.“ Und diese anklagenden Verse aus „Die jüdische Mutter“ mag man manchen der Menschen – auch den in dieser meiner Darstellung genannten Dichterinnen und Dichtern – aus dieser Zeit ins Stammbuch schreiben:
„Glaubt ihr, es sei gerecht, in Kirchen mitzubeten,
behaglich anzunehmen, was der Pfarrer spricht,
dann hinzugehn und diese Seele wie ein Tier zu treten?…
Ihr! Ihr! O Ehr- und Würdenmänner, schlimmer als Gelichter!
Ich darf euch nicht verfluchen, daß ihr siecht und dort;
Denn noch in dieses trübe Haus blickt streng der Gott der Richter.
Steh auf, mein Kind, und klage an mit deinem jungen Wort!“
In eindrücklichen Gedichten beschreibt sie die schlimmen Zustände in Lagern („Im Lager“, „Die Gefangenen“) – und darin heißt es: „Keinem aber ist noch der bärtige Häftling erschienen, / Der sich geduldig und still, niemals redend mit ihnen, / Täglich müht, ein hölzernes Kreuz auf die Richtstatt zu schleppen.“ Jesus als Mitleidender ist in ihren Erwartungen zwar da, aber er bleibt aus. Und „Der Mißhandelte“ ruft Gott an, obgleich er glaubenslos ist: „Hörst du, ich leugne dich! Mein Gott… ach, hilf mir doch! / Du bist nicht: wenn du wärst, erbarmtest du dich mein. / Jesus litt für alle; ich leide für mich allein.“ Der Mensch in seiner ganzen Hilflosigkeit, in seinem Nichtverstehen von Gott und die Welt – und seiner selbst wird in diesem Gedicht ausgesprochen. In „Grabschrift“ wird Jesus als Beispiel für sein Volk genommen: „Aber er, der Reine, der Gerechte, / Ward gezeugt, als Opferlamm zu fallen.// Daß er wuchs und siegte, schien ein Greuel, / Untat, die der Welten Gang verkehrte, /…/ Und sie rasten, angstbeseßne Herde, / Und erschlugen ihn mit Totenbeinen, / Stampften ihn in Kehrricht, Kalk und Erde. / Immer sie, die Vielen. Ihn, den Einen.“