Alexander Blok war Sohn eines deutsch-polnischen Professors (Block) und seiner russischen Frau. Kurz nach der Geburt verließ sie den Mann und war alleinerziehend, heiratete einen Offizier, lebte in einer Kaserne. Die Mutter ging mit ihm nach Bad Nauheim. Zurückgekehrt nach Russland machte er 1898 sein Abi, 1906 schloss er sein Studium ab. Er wurde zu einem einflussreichen russischen Dichter. In religiöser Hinsicht gibt es aus der frühen Zeit zahlreiche Gedichte, die sich mit dem Thema beschäftigen – allerdings soweit sie mir bekannt sind: immer ambivalent. Kirchen werden düster beschrieben – obgleich sie geliebt werden, aber der Aspekt Heuchelei kommt in das Gedicht hinein („Ich liebe hohe Kirchen“), er traut sich selbst nicht in seinen Christusbegegnungen, was Kasack auch an anderen Gedichten darstellt. Mönche sind blass, werden der schönen Natur kontrastiert. Sobald ein positiver Aspekt genannt wird, wird er ins Negative umgewandelt („Du bist heilig, aber ich glaube dir nicht“ oder: „Das Mädchen sang im Kirchenchor“), er suchte den Glauben, fand ihn nicht, und hofft, dass er ihn nicht benötigt („Ich lebe ohne Glauben“). Er begrüßte die Revolution, wurde dann aber von ihr enttäuscht und wurde, so heißt es, depressiv. Sinaida Hippius kritisiert Blok in den Petersburger Tagebüchern scharf, weil er sehr wankelmütig sei. Er starb 1921 wohl aufgrund von Unterernährung verbunden mit einer Herzerkrankung. Die Gedichte: s. https://aleksandr-blok.su/
Er schrieb ein Gedicht, sein berühmtestes: Die Zwölf (1918). Hier finden wir die Übersetzung: https://ruverses.com/alexander-blok/the-twelve/10828/ Alfred Edgar Thoss / Planet Lyrik). Allerdings, und das ist spannend: wird der Jesus-Christus-Bezug, werden hier also die letzten wesentlichen und umstrittenen Verse weggelassen. Diese letzten Verse finden wir hier https://d-nb.info/127037513X/34 (Elisabeth von Erdmann-Pandzic´: Zur Christusfigur in Aleksandr Bloks „Die Zwölf“, in: F. Prcela (Hg.): Dialog, Mainz/Zagreb 1996, 311-322) samt Interpretation. Die letzten Zeilen:
So gehen sie mit mächtigem Schritt –
Hinterher – ein hungriger Hund,
Vorne – mit blutiger Fahne,
Und durch den Schneesturm unsichtbar
Und von den Kugeln unversehrt
Mit zartem Schritt übers Wirbelwehen,
Perlschnee streuend (andere Ü: Gekrönt mit einer Krone aus Schneeflockenperlen)
In einem weißen Kranz aus Rosen
Voraus – Jesus Christus.
Soweit ich das Gedicht verstehe, ist es revolutionskritisch (Februar- und Oktober-Revolution: 1917 – vorher, 1905, aber schon Vorläufer der Auseinandersetzung mit dem Zaren): Ein großes rotes Tuch rühmt die Revolution – und eine alte Frau denkt, daraus könne warme Kleidung hergestellt werden. Aber insgesamt ist in dem Gedicht alles schillernd, nicht ganz eindeutig, sodass laut Hippius eine Zeile von Bolschewisten als Propaganda verwendet wurde: „Allen Bourgois zum Ärger / Schüren wir den Weltenbrand!“ (Petersburger Tagebücher, Ebert: 5.1.1919 [Seite 400]). Der eine Revolutionär erschießt seine Freundin, ist traurig, aber die anderen fordern ihn auf, sie nicht mit seiner Trauer zu plagen, weil sie Schwereres zu tragen hätten. Es ist eine düstere, zerstörte Welt im Schneetreiben, die geschildert wird. Alles ist im Niedergang. Und dann endet das Gedicht damit, dass Jesus Christus den Revolutionären vorausgeht. Jesus spielte allerdings schon im gesamten Gedicht eine Rolle – das kann auch an der Zahl „12“ erkannt werden. Die Jünger Jesu als Revolutionäre.
Blok wird dem Symbolismus zugeordnet. Er selbst war, so lesen wir im genannten Beitrag, mit diesem Ende des Gedichts unzufrieden. Aber es war für ihn notwendig. (Der weiblich gezeichnete) Jesus lebte unter den Sündern – mit Jesus bricht eine neue Zeit an. Blok, so in dem Beitrag von Elisabeth von Erdmann-Pandzic´, war Anhänger der Altgläubigen, die als Sekte mit apokalyptischer Erwartung angesehen wurde – und die besonders mit dem russischen Volk und den Sozialrevolutionären verbunden worden waren. Das im Gegensatz zur Staatsideologie der Zaren-Tradition, in der der Zar ganz eng mit Christus verknüpft wurde,; der Zar hatte die Aufgabe, die Pravda, die Wahrheit in der Welt durchzusetzen. Die Altgläubigen hatten sich von der Zaren-Orthodoxen Kirche abgespalten – dem Antichristen – und sahen nicht den Zaren im Zentrum, sondern den durch Russland verborgen herumziehenden Jesus. Und Lenin konnte mit dieser Vorstellung vom verborgen herumziehenden real werdenden Erlöser – der nun die Pravda durchsetzt – verbunden werden. Blok hebt den Künstler hervor, der eben das sieht: dass Christus der Revolution vorangeht.
(Nachtrag: Kasack stellt in dem Buch „Christus in der russischen Literatur“ auch Bely [1880-1934] vor. In diesem Zusammenhang auch „Der Angekommene“ 1903: Menschen warten auf den kommenden Christus. Es kommt jemand – und es bleibt offen, ob es Christus oder der Antichrist ist, oder vielleicht eine Täuschung. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Blok hieraus Anregungen bekommen haben könnte.)
Nun das „Aber“ (weitere, sich widersprechende Aspekte siehe: der genannte Beitrag): Dieser unsichtbare Christus, den der Künstler sieht, ist nicht verfügbar. Der Realität der im wirbelnden Schnee mordend dahinstampfenden Kommunisten / Rotarmisten / Bolschewiki wird der Weiße-Rosen-Christus entgegengestellt. Sie suchen ihn zu töten, sie ahnen, dass da vor ihnen etwas ist, was ihnen nicht geheuer vorkommt – das Gewehr im Anschlag, es wird geschossen. Christus stirbt nicht, er wird die Zukunft herbeiführen, denn er ist nicht verwundbar. Die Rotarmisten sind, wie Blok in seinem Tagebuch schreibt, Christus nicht würdig, aber er geht mit ihnen, es sollte aber ein anderer mit ihnen gehen, wie Kasack 105 schreibt, wobei nicht geklärt ist, wen Blok als „anderen“ meinte. Die Rotarmisten bekämpften Christus, die Kirche, die Vertreter auf Erden massiv. Sperrten sie in Gulags, brachten sie um, plünderten Kirchen und Klöster, haben sie abgebaut, zweckentfremdet, geschändet. Aber Christus war nicht umzubringen. Und die Zeit der Übel ging vorbei. Der Glaube bekam wieder Freiheit.
Ich sehe das Gedicht auch als Kritik an der Kirche – nicht nur an der Orthodoxen Kirche, sondern mit Blick auf die „Zwölf“ auch an den Jüngern. Sie folgen – wie alle – Jesus, den sie nicht erkennen – und gegen den sie agitieren. Blok sieht Jesus Christus der Revolution vorangehen – aber die Kommunisten bekämpfen Jesus Christus. Es ist ein schillerndes Gedicht, wie gesagt. Und darum konnte es noch 1918 veröffentlicht werden. Und so sahen Gegner der Revolution in diesem Jesus Christus von Blok den Antichristen, den Satan, der sich als Christus ausgegeben hat. Der, der Jesus Christus und die Kirche bekämpft – eben als Führer der Rotarmisten. Hätte Blok es als angemessener angesehen, dass der Satan den Revolutionären vorangehe? Bunin, der Kritiker der Revolution und der Mitläufer, kritisiert an dem „leidenschaftlichen Bolschewiken“ Blok und an Schriftstellern seiner Zeit, dass sie die Sprache missbrauchen, Phrasendrescher seien und – obgleich dumm sind – als Genie bezeichnet werden („Verfluchte Tage“).
Schillernd ist es wohl auch aus diesem Grund: Es entstand in einer Zeit des Übergangs, in der er vom Anhänger der Revolution zu einem Zweifler wurde. Er wusste wohl selbst noch nicht so ganz, wie er alles in sich selbst sortieren sollte. Und so bekam das Gedicht eine große Eigenständigkeit. Allerdings muss ich sagen, wie so häufig, dass ich kein Alexander Blok Fachmann bin. Das Gedicht hat für mich einen äußerst unangenehmen Beigeschmack – vor allem auch, wenn man an die vielen, vielen Opfer denkt, die diese Revolution hervorgerufen hat.
Um noch einmal auf den Eingang zurückzukommen: Es ist schlimm, wenn bei Übersetzungen der wesentliche Teil weggelassen wird. Die Frage stellt sich: Warum?
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Noch eine Anmerkung zum Gedicht von Blok „schamlos zu sünd´gen und begierig“ (1914). Es beschreibt die Spannung des Menschen: er besäuft sich – geht in die Kirche, verbeugt sich – und liegt in seiner Kotze, opfert ein Geldstück – um das er dann einen anderen betrügt usw. Der fromme Mensch – der sich nicht gottgemäß verhält – dann in Schlaf fällt wie ein Tier. „Allein auch so, mein Russland, fühle, / Bist du der Länder liebstes mir.“ Betrifft aber nicht nur Russland: Wir Menschen sind als Menschen störrische Wesen.
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Blok selbst hat, wie Wolfgang Kasack (Christus in der russischen Literatur. Ein Gang durch ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Urachhaus, Stuttgart 2000) zeigt, ein ambivalentes Verhältnis zu Christus. Es werden auf Seite 155ff. Zitate aus Briefen angeführt, die eine Distanz zeigen: er kennt ihn nicht – quält sich mit ihm ab. In Gedichten mit Christusvisionen sieht er sich von Christus getrennt. Er überlegt sich, wie er diese Trennung überwinden könne. In den Jahren der Revolution wurde Christus immer wieder von Schriftstellern erwähnt: das Proletariat sei der Messias, Russland sei der kommende Messias, der Bauer ist der auferstandene Christus. Und auch das Gedicht „Die Zwölf“ beschreibt Blok selbst als Ergebnis einer Vision: er sieht hin, wer den Rotarmisten vorangeht, er kann es nicht glauben, was er sieht: Christus ist es. (158)
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Ich wurde auf ein Gedicht von Blok von 1901 aufmerksam gemacht: „Ich hab Dich im Gefühl“. https://ruverses.com/alexander-blok/i-foresee-you-the-years-pass-me-by/1616/ Dieses Gedicht ist äußerst spannend. Gott wird in dem Gedicht nicht genannt, aber, wie ich belehrt wurde, wenn im Russischen die Anrede groß geschrieben wird, ist Gott gemeint. In diesem Gedicht schildert Blok eine Innen/Außen-Offenbarung. Er wartet sehnsuchtsvoll auf Gott, der Horizont – flammendes Licht wird erfahren/gesehen. Gott nähert sich – aber verändert sich. Nicht nur Gott verändert sich, sondern er merkt prophezeiend, dass das Gewohnte sich verändert. Und dann fällt er, träumt vom Tod. Der Horizont ist nah – doch er hat Angst.
Ich finde dieses Gedicht insofern äußerst spannend, weil er ein Gotteserlebnis hat, es aber nicht so benennt, das Gotteserlebnis erwartet wurde, sich aber negativ in ihm festsetzt. Er sieht, dass sich sein Leben und alles verändert – und zwar zum Schlimmen. Prophezeiung seiner Zukunft – Prophezeiung der Zukunft Russlands, sein Fallen in der Geschichte, das Fallen Russlands?
Auch die alttestamentlichen Propheten haben keine lustvolle Gottesvision. Im Gegenteil, es erfasst sie Schrecken. Und der Schrecken, der sie erfasst bedeutet immer auch: Gericht anzukündigen. Und dieses Prophetische wird in dem Gedicht massiv in die Gegenwart geholt, sieht seine eigene und Russlands Zukunft. Und: Er konnte seinen eigenen Fall, trotz dieser Vision, nicht verhindern.