Ricarda Huch (1864-1947)

Ricarda Huch (1864-1947)

Eine Schriftstellerin, Historikerin, Philosophin, Bibliothekarin. Lehrerin. Mit Blick auf die Gedichte ist interessant, dass sie sich als Jugendliche in den Mann ihrer Schwester so massiv verliebte, dass sie gezwungen wurde, wo anders zu wohnen. Nach einer Scheidung heiratete sie Jahre später ihren Jugendschwarm, allerdings war diese Liebe unglücklich, sodass die Ehe geschieden wurde. Danach 1914-1926 beschäftigte sie sich intensiv mit der christlichen Tradition (Luther, Bibel, Wiederkehrender Christus). Schon 1933 schied sie aus der Preußischen Akademie der Künste aus, weil sie damit gegen den Ausschluss des Juden und Sozialisten Alfred Döblin aus der Akademie protestieren wollte (andere Informationen: Sie hat sich für Kollwitz eingesetzt). 1934 erschien der erste Band ihres Werkes: Deutsche Geschichte, das allgemein kritisiert wurde. Es war nicht auf nationalsozialistischer ideologischer Linie; anderen Bänden wurden massivere Steine in den Weg gelegt. Gleichzeitig wurde ihr aber nichts Übleres angetan, weil sie ein hohes Ansehen hatte. Sie wollte nach 1945 intensiv über die Widerstandskämpfer recherchieren, doch hat sie gemerkt, dass das Vorhaben sie überforderte. 1947 starb sie, bis zuletzt gesellschaftspolitisch engagiert.

Zitiert werden die Gedichte nach Ricarda Huch: Gedichte, Dramen/Reden, Aufsätze und andere Schriften, Gesammelte Werke Bd 5, Bertelsmann o.J. In „Frühe Lyrik“ finden wir ein kleines Gebet, in dem der „Herr der Welt“ gebeten wird, dem Liebsten einen Engel zu senden (vgl. auch „Geleit“ – ein Reisesegen: „Seist du drüben oder hier, / Wohnst du dicht an Gottes Herzen.“). Das Gedicht  „Dir fern und ferner, deiner nicht gedenkend“ schließt mit der Strophe: „Das Auge noch im Kram des Lebens wählt, / Ruht unsre Seele in des Gottes Händen, / Des treusten, dem von Anfang sie vermählt.“ Das heißt, sie spricht von Gott bzw. zu Gott eher klassisch, bekannt, traditionell. Ähnlich auch: „Gebet in höchster Not“: „Herrgott, ich bin allein zu schwach…“. Die letzten Verse lauten: „Herrgott, mein töricht Wunsch und Wahn / Weiß nicht, was Nutz und Schade; / Was mir von dir wird angetan, / Sieg oder Tod, das nehm ich an, / Das fließt vom Quell der Gnade.“ Von der himmlischen Heimat kommt die tröstende Stimme: „Komm zu mir, komm! Hier ruhst du aus.“ („Rosen und Georginen“).

Aber sie kann auch um Gott ringen: In dem Gedicht „Kriegswinter“ beschreibt sie das Leiden im Krieg, fragt, ob das, was man von Gott sagt, nur Rauch sei – und schlägt statt dessen vor, vom Frühling zu träumen. Das ist insofern interessant, als sie in vielen Gedichten Kriegshelden besingt, ich vermute, sie stammen aus der Anfangszeit des 1. Weltkrieges. Das finden wir häufiger in der Menschheitsgeschichte: Der Mensch treibt den Krieg voran und versteht dann, wenn er leiden muss, Gott nicht mehr. Dass Huch sich Gott, den sie nicht versteht, nicht unterwirft, wenn sie es nicht einsieht, beschreibt sie in „Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest“: Gott ist (vielleicht) auch den Verbrechern gnädig („Und hätte Gott selbst so viel Huld“) – auch wenn dem so sein sollte, sie hält an ihrem Hass fest, „Daß kein Lügner schminke das Böse, / Verfluchtes vom Fluche löse.“ Der Gedichtband, in dem das Gedicht erschien, Herbstfeuer, wurde 1944 veröffentlicht. Wer die Verbrecher sind, die sie hasst, dürfte eindeutig sein. Und der Engel, den Gott gesandt hatte, um den „Verbrecher mit Gnade zu betauen“, „Wendet sich ab voll Grauen / Und wird zum zischenden Rächer.“ Selbst der Engel kann Gottes mögliche Gnade nicht nachvollziehen – damit erklärt sie auch, dass es Krieg auf Erden gegen die Verbrecher gibt, obgleich Gott selbst vielleicht andere Wege gehen würde. Ebenso trotzig formuliert sie in dem Gedicht „Alles oder Nichts“, dass sie nicht danach strebt, von einem Gott Beifall zu bekommen. Sie kann auch zweifelnd fragen („Wo des Gottes Füße sprühen“). Andererseits kann sie sehr heftig bitten („Gebet“):

„Laß, Herr des Lebens, deine Boten /
Mich anglühn! /
Ich weine ja und bete, /
Unsterblicher, verjünge mich! /
Mit deinen Schöpferhänden knete /
Den Ton, der bricht./
Du bist kein Gott der Toten, /
Ewige Glut durchdringe mich mit Licht! /
Nichts, was ich selbst erkor, /
Nicht meinen Willen, deinen Hauch, dich! dich! /
Mein Herz versinkt – Flügel zu dir empor!

In diesem Gedicht finden wir manche Anspielungen auf biblische Themen (Ton in Gottes Hand, Kein Gott der Toten) – und den Aspekt, der in der Mystik wichtig war: Die vollkommene Übergabe des Glaubenden an Gott, die gleich unten in einem Liebesgedicht wieder begegnen wird. Nicht ganz so heftig, aber vergleichbar mit der Anrede „o Herr“ spricht das Gedicht „Flammentod“.

Spannend ist die enge Verbindung von Liebesgedicht und Glaubensgedicht. In „Liebesgedichte“ flicht sie den Glauben ein, und sie schreibt

Ich will dich, wie der Christ den Heiland hat: /
Er darf als Mahl den Leib des Herrn genießen. /
So will ich dich, o meine Gottheit, haben, /
In meinem Blut dein Fleisch und Blut begraben. /
So will ich deinen süßen Leib empfangen, /
Bis du in mir und ich in dir vergangen.

(„Ich werde nicht an deinem Herzen satt“). Solche Gedichte, die äußerst religiös die Liebe besingen, sind nicht selten. Ganz massiv auch in „Ich bin dein Schatten, du bist, der mich schafft“ und „Geliebter Herr, du tauftest mich mit Feuer“, oder: „Du warst in dieser götterlosen Zeit“. Es sind tiefe Liebesgedichte, zu tiefe, um wirklich dem geliebten Menschen gerecht zu werden, es sind tiefe Glaubensgedichte. Auf menschliche Beziehung übertragen, wirken sie zum Teil äußerst devot. (Entsprechendes haben wir schon bei Theodor Storm entdeckt.) In dem Gedicht: „Wie aus des Ostens Dunst im Siegeswagen“ dürfte sie erklären, warum sie menschliche Liebe und Glauben so eng zusammenführt: „Und was wir ahnen als der Gottheit Zeichen, / Machst du erkennbar allen, die dir nahn: / Vollendung, deren Wiederhall die Liebe.“ Lou Andreas-Salomé, die im Kontext von Rilke häufiger genannt werden wird, thematisiert in ihrer Autobiographie das Thema Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen, die „Identität von Gottesverhältnis und Liebesverhalten“. Aus ihrer Perspektive als Frau hat sie als Mädchen nur den lieben Gott gekannt, der ihr Alles war. Dann in der Jugendzeit transformiert sie diese Liebe auf den Partner. Man holt das Himmlische ins Irdische. Das Liebesverhalten geht über den irdischen Menschen hinaus, lebt im „fast religiösem Sinnbild weiter“. Aus christlicher Perspektive formuliert es Gertrud von le Fort, die in meiner Darstellung auch Thema sein wird: Die irdische Liebe ist Abbild der Liebe Gottes (nicht erst seit Gertrud von le Fort ist das im christlichen Glauben verankert. Eine Vorstufe findet sich schon im Epheserbrief 5,21.).

Sie beschreibt  in „Der Auferstehende von Grünewald“ – was ganz selten ist – Jesus Christus (aber in ihrem Aufsatz: Post Christum [Kurt Ihlenfeld: Die Stunde des Christentums. Eine deutsche Besinnung, Eckart-Verlag 4. erw. Auflage 1938] schreibt sie zu Christus: „Er hat keine Stunde, da er ewig ist. Auch die Ungläubigen von heute und die Gottlosen der Zukunft sind an seinem Geiste genährt. Er ist der Fels, den die Fluten der Zeit nicht stürzen können.“):

Ist´s noch der edle Leib, den wir berührt, /
Der hold sich neigte seinem schwachen Volke? /
Schon schmilzt, was sterblich war; /
Den unser Herz noch spürt, /
Entfesselt, feuerklar /
Blitzt er empor in heimatlicher Wolke. //
Dies ist die Kraft auf seines Vaters Thron, /
Der jäh den Stein zerriß, der ihn gefangen! /
Kniet hin und betet an! /
Gott ward der Göttersohn; /
Das Weltall rollt heran, /
den, der es schuf, die Liebe, zu empfangen.

In diesem Text versucht sie die Dramatik des Bildes wiederzugeben – und spricht damit wesentliche Aspekte ihres Glaubens – in der Gestalt der Jünger – an: Sich Gott unterwerfen, der in Liebe handelt. Die Formulierung „Göttersohn“ für Jesus dürfte der damaligen Zeit geschuldet sein, die Götter überall eingebracht hat. Solche Bezugnahmen auf „Götter“ begegnen auch bei Huch in anderen Gedichten. In „Johannes und der Adler“ beschreibt sie eine Skizze von van Dyck; hier blitzt es nicht nach oben – es blitzt nach unten, der Blitz durchbohrt das Ohr des Erwählten: „In das verwesliche Tor / Rauscht das unsterbliche Wort.“ Damit wird sehr schön der Evangelist als Mensch beschrieben, den Gott auserwählt, Göttliches auszusprechen – aber auch: „Der Dichter“ ist Prophet, er bekommt von Gott die Stimme zu warnen, er geht dem Volk voran – doch das Volk dient den Götzen; dennoch: „Wirkt doch ein mächtiges Wort unverwelklich im Herzen der Guten / Und sein vergessenes Grab findet der himmlische Tau.“ (Siehe auch bei Rilke das Thema.) Der große, liebende Gott, dem man sich als Mensch zuordnen muss, er wendet sich dem sterblichen Menschen zu.

1946 schreibt sie im „Gebet zum Tag der Toten“: „Nimm denn auf in Deine Liebesfülle, / Vater unsere Toten und umhülle / Ihren wunden Leib mit Licht. / Sonnenhell wird dann ihr Aug´ entbrennen / Und der Erde dunkles Wort erkennen / Angesicht zu Angesicht“ – womit sie ein Wort des Apostels Paulus anspricht. Damit sind wir am Ende der Frage nach Gott in den Gedichten Ricarda Huchs angelangt. 1947 schrieb sie in „In das Dunkel, das uns drückte“ wieder ganz traditionell:

Liebe Gottes, Quell der Gnade, /
Tröste der Betrübten Schmerz, /
Gib uns Licht auf unsre Pfade, /
Frieden gib ins Herz.

Irgendwo las ich, dass Ricarda Huch in ihren letzten Lebensjahren von Rudolf Alexander Schröder Besuch bekommen habe. Und Schröder sprach sie auf das ewige Leben bei Gott hin an. Sie soll brüsk auf die Erde verwiesen haben. Das sollte als Beispiel dafür dienen, dass Ricarda Huch säkular zu interpretieren sei, auch in ihren Liebesliedern. Aber das gibt sie – wie anhand der oben genannten Beispiele gesehen werden kann – nur unvollkommen wieder.

Ein kurzes Gedicht sei näher betrachtet, das in Herbstfeuer erschienen ist:

Tief in den Himmel verklingt
Traurig der letzte Stern.

Geh schlafen, mein Herz, es ist Zeit.
Kühl weht die Ewigkeit.


War, wofür du entbrannt,
Kampfes wert?
Geh schlafen, mein Herz, es ist Zeit.
Kühl weht die Ewigkeit.

Ein Morgengedicht, nach durchwachter Nacht, in der über dies und das im Leben nachgedacht wurde. Erhitzt ist das Gemüt. Hatte mein Leben Sinn? Das Herz wird beruhigt. Es heißt nicht: „Geh schlafen, mein Herz, es ist Zeit. Kalt wartet die dunkle Gruft der Ewigkeit.“ Das wäre atheistisch gedacht – bei einer Christin wie Ricarda Huch nicht angemessen. Der das erhitzte Fragen kühlende Frühlingsmorgenwind ist Bote der Ewigkeit Gottes. Wie bei Eichendorff der Morgenhimmel. Einschlafen und in Gott hineinsinken. Damit wären wir wieder oben bei den Liebesliedern.